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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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sollen? Noch dazu auf diese Art. 
     
    Jun, die so schnell sie kann den Weg entlangläuft. Schließlich bleibt sie gegen den Bretterzaun gelehnt stehen. Sie schaut auf die Straße. Sieht eine kleine Staubwolke, die näherkommt. Das zerzauste Haar, die glänzende Haut, der erhitzte Körper unter ihren Kleidern, der offene Mund, der keuchende Atem. So nah sein zu können, daß man den Geruch von Juns Körper spürt. 
     
    1016. Wal. Der größte Fisch der Erde (allerdings haben ihn sich die Seeleute aus dem Norden nur ausgedacht) (höchstwahrscheinlich). 
     
    »Ich bin hier gelandet, weil es eben so gekommen ist. Einen anderen Grund gibt es nicht. Ich bin hier gelandet wie ein Knopf in einem Knopfloch und hiergeblieben. Irgendwer ist wohl irgendwo auf der Welt morgens aufgestanden, hat sich seine Hosen angezogen, hat dann sein Hemd übergestreift und angefangen, es zuzuknöpfen. Einen Knopf, dann den zweiten, dann den dritten, dann den vierten, und der vierte war ich. So bin ich hier gelandet.«
    Pekisch hat den alten Kleiderschrank der Witwe Abegg genommen, die Türen abgebaut, ihn auf den Boden gelegt, sieben gleiche Darmsaiten herausgesucht, sie mit einem Ende an einer Kante des Möbelstücks festgebunden und sie dann bis zur anderen Seite gespannt, wo er sie auf kleinen Röllchen befestigte. Er dreht an den Röllchen und verändert so die Spannung der Saiten um Millimeter. Die Saiten sind dünn, wenn Pekisch sie anzupft, produzieren sie einen Ton. Er bringt Stunden damit zu, kaum merklich an den Röllchen zu drehen. Niemand hört einen Unterschied zwischen den verschiedenen Saiten. Es klingt, als spielten sie immer den gleichen Ton. Doch er bewegt die Röllchen und hört Dutzende verschiedener Töne. Sie sind unsichtbar. Sie verstecken sich zwischen denen, die alle hören können. Er bringt Stunden damit zu, sie aufzuspüren. Ob er wohl eines Tages verrückt daran wird? 
     
    Jeden ersten Montag im Monat kamen sie zu viert oder zu fünft auf die große Wiese hinunter und machten sich daran, Elisabeth zu putzen. Sie nahmen den Schmutz und die Zeit von ihr.
    »Verlernt sie denn das Schnellfahren nicht, wenn sie hier so rumsteht?«
    »Das Gedächtnis der Lokomotiven ist eisern. Wie alles andere übrigens auch. Im rechten Moment erinnert sie sich an alles. An alles.« 
     
    Als der Krieg ausbrach, zogen sie aus Quinnipak los in den Kampf, zweiundzwanzig an der Zahl. Nur Mendel kehrte lebend zurück. Er schloß sich in seinem Haus ein und schwieg drei Jahre lang. Dann begann er wieder zu sprechen. Die Witwen und die Eltern der Gefallenen gingen zu ihm, um zu erfahren, was aus ihren Männern und Söhnen geworden war. Mendel war ein ordentlicher Mensch. »In alphabetischer Reihenfolge«, sagte er. Als erste ging die Witwe von Adlet eines Abends zu ihm. Mendel schloß die Augen und begann zu erzählen. Er erzählte, wie sie gestorben waren. Adlets Witwe kam am nächsten Abend wieder und auch am Abend darauf. Und wochenlang so weiter. Mendel erzählte alles, erinnerte sich an alles, und vieles konnte er sich denken. Jeder Tod war ein langes Poem. Nach anderthalb Monaten waren die Eltern von Chrinnemy an der Reihe. Und immer so weiter. Sechs Jahre waren seit Mendels Rückkehr vergangen. Da kam allabendlich der Vater von Oster zu ihm. Oster war ein kräftiger blonder Bursche gewesen und bei den Frauen sehr beliebt. Er rannte weg und schrie vor Entsetzen, als die Kugel in seinen Rücken drang und ihm das Herz zerfetzte. 
     
    1221. Berichtigung zu 1016. Wale gibt es wirklich, und die Seeleute aus dem Norden sind schon in Ordnung. 
     
    Mormy wuchs heran, und die jungen Dienstmädchen aus dem Hause Rail sahen ihn mit einem Verlangen an, das ihm unter die Haut ging. Auch Jun sah ihn an, und immer öfter dachte sie: »Diese Frau muß bildschön gewesen sein.« Sie tat alles für ihn, was eine Mutter für ihn getan hätte. Doch sie dachte nie daran, es wirklich zu werden. Sie war Jun, und damit basta. Einmal seifte sie ihm den Rücken ab und kniete dabei neben dem Waschkübel mit dem heißen Wasser. Er mochte heißes Wasser nicht, aber er mochte es, wenn Jun da war. Er saß reglos im Wasser. Jun ließ den eingeseiften Waschlappen fallen und fuhr mit der Hand über diese bronzefarbene Haut. Was war das? Ein Junge oder ein Mann? Und was war er für sie? Sie streichelte seine Schultern. »Früher hatte ich auch so eine Haut«, dachte sie, »eine Haut, als hätte sie nie jemand berührt.« Mormy blieb reglos sitzen, mit weit

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