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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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Kopf und in jeder Faser seines Körpers saß. Er spürte noch immer den Staub, die Rufe, die Gesichter, die Tiere, den Geruch, das aufreibende Warten dieses Moments. Der nur für ihn zu einem immerwährenden Moment wurde, zu einem tief in die Seele gegrabenen Bild, zu einer Photographie des Geistes, zu Zauber und Magie. Die anderen ritten um die Wette bis zum Ziel, und unter dem lauten Geschrei der Leute siegte der Sieger. Aber das sah Mormy nie. Er verpaßte den Wettlauf jedesmal. Vom Start fasziniert, hingerissen. Dann weckte ihn vielleicht unversehens der allgemeine Tumult, und der Augenblick des Starts zerbröckelte vor seinen Augen, er kehrte in die Welt zurück und ließ seinen Blick langsam zur Ziellinie schweifen, wo alle hinliefen und irgend etwas schrien, nur so um zu schreien, nur für den Spaß, geschrien zu haben. Er ließ seinen Blick langsam schweifen und stieg wieder auf den Karren der Welt, zu all den anderen. Bereit für die nächste Haltestelle.
    Eigentlich war es das Staunen, das ihn überrumpelte. Gegen Verwunderung war er nicht gefeit. Es gab Dinge, die jeder andere seelenruhig betrachtet hätte, vielleicht wäre er auch ein bißchen beeindruckt, vielleicht würde er sogar einen Augenblick innehalten, aber schließlich waren es doch nur ein paar Dinge unter vielen, ordentlich in Reih und Glied mit all den anderen. Doch für Mormy waren ebendiese Dinge Wunder, sie explodierten wie Zaubereien und wurden zu Visionen. Der Start eines Pferderennens konnte das sein, aber auch einfach ein plötzlicher Windstoß, das Lachen auf einem Gesicht, der Goldrand eines Tellers oder ein Nichts. Oder sein Vater im Schaukelstuhl mit Jun, die sich langsam umdreht und ins Haus zurückgeht.
    Das Leben regte sich, und schon ergriff das Staunen Besitz von ihm.
    Das Ergebnis war, daß Mormys Wahrnehmung der Welt sozusagen holperte. Sie bestand aus einer Reihe fester – erstaunlicher – Bilder und den Überresten verlorener, ausgelöschter Dinge, die seinen Blick nie erreicht hatten. Eine synkopierte Wahrnehmung. Die anderen sahen das Werden. Er sammelte Bilder, die einfach nur da waren, Schluß, aus.
    »Ist Mormy nicht ganz richtig im Kopf?« fragten die anderen Jungen.
    »Das weiß nur er allein«, antwortete Mr. Rail.
    Fest steht jedenfalls, daß man allerhand sieht, hört und berührt … Es ist, als trügen wir einen alten Erzähler in uns, der uns die ganze Zeit eine nie vollendete Geschichte erzählt, die mit etlichen Details angereichert ist. Er erzählt, er hört nie auf damit, und das ist das Leben. Bei dem Erzähler, der Mormy im Leib saß, hatte vielleicht etwas ausgehakt, vielleicht hatte ein ganz persönlicher Schmerz ihm diese Art von Müdigkeit zugefügt, durch die er nur noch bruchstückhafte Geschichten erzählen konnte. Und zwischen einer Geschichte und der nächsten – Stille. Ein Erzähler, überwältigt von irgendeiner Verletzung. Vielleicht hatte ihn eine Schweinerei aus dem Feld geschlagen, hatte ihn das Erstaunen über einen miesen Verrat zerstört. Oder vielleicht hatte ihn einfach die Schönheit dessen, was er erzählte, Stück für Stück übermannt. Die Verwunderung schnürte ihm die Kehle zu. Und in seinen Redepausen, die stummgewordene Erregung waren, lagen die schwarzen Löcher von Mormys Gehirn. Wer weiß. Manche nennen ihn Engel, den Erzähler, den sie in sich tragen und der ihnen das Leben erzählt. Wer weiß, wie die Flügel von Mormys Engel waren.

2
     
    Langsam. Langsam, als gingest du auf einem Spinngewebe. 
     
    Langsam. 
     
    Wie ein nagender Wurm. 
     
    Er fragte sich immerfort, ob sie ihm je verzeihen würde. 
     
    621. Dämonen. Gefallene Engel. Aber wunderschön. 
     
    Moos. Das war es: Moos. 
     
    Trotzdem wäre es nicht passiert, wenn er beim Hinausgehen nicht ausgerechnet an diesem Spiegel vorbeigekommen wäre, so daß er stehenbleiben, umkehren und sich vor ihn hinstellen mußte, reglos. Um sich anzusehen. 
     
    … zu Juns Lippen hinauf …
     
    Es war gerade am Abend. Die Sonne tief über den Hügeln streckte die Schatten ins Maßlose. Und es fing zu regnen an, einfach so, unverhofft. Ein Zauber. 
     
    Die Angst floß durch seine Seele wie ein Schluck Schnaps durch die Kehle … er wurde mit einem Schlag verrückt … Nicht wie manche, die das schrittweise tun … 
     
    Laß diese Kerze brennen, bitte, lösch sie nicht aus. Wenn du mich liebhast, lösch sie nicht aus. 
     
    Mr. Rail ist weggefahren. Mr. Rail wird wiederkommen.  
     
    Er erinnerte sich an

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