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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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erlassenen Kohlesteuern … 
     
    Wie seltsam das Leben doch manchmal spielt. Mrs. Adelaide Fergusson, die Frau des verstorbenen Rol Fergusson vom Kaufhaus Fergusson und Söhne, dem späteren Kaufhaus Gebrüder Fergusson, das nun endgültig Kaufhaus Betty Pun hieß, starb an gebrochenem Herzen nach nur dreiundzwanzig Tagen, an denen sie gesehen hatte, wie Betty Pun – in ein Korsett gezwängt, daß einem schwindlig werden konnte – allmorgendlich kam und das Kaufhaus aufschloß, das jahrelang ihr gehört hatte. Sie hielt dreiundzwanzig Tage durch. Sie war eine treue und tadellose Ehefrau gewesen. Sie starb vor Wut schäumend eines Nachts und sagte nur ein einziges, klares Wort: »Mistkerl«.  
     
    1901. Sex. ERST die Stiefel ausziehen, DANN die Hosen. 
     
    Der alte Andersson hatte immer in zwei Räumen im Erdgeschoß der Fabrik gelebt. Und dort lag er nun auch im Sterben. Es war gar nicht daran zu denken gewesen, ihn in das große Haus hinaufzubringen. Er hatte dort unten bleiben wollen, mit dem Geräusch der Brennöfen im Ohr und tausend anderen Dingen, die er kannte. Mr. Rail besuchte ihn jeden Tag bei Sonnenuntergang. Er trat ein und sagte einfach: »Hallo, ich bin der, dem du versprochen hast, nicht zu sterben.«
    Und der alte Andersson antwortete jedesmal: »Da hat dir ja einer einen schönen Bären aufgebunden.«
    Jedesmal, außer an diesem Tag, an dem er gar nichts antwortete. Er schlug nicht mal die Augen auf.
    »He, alter Andersson, ich bin’s, wach auf! Laß die blöden Witze, ich bin’s …«
    Andersson schlug die Augen auf.
    »Hör mal, ich habe dir die hier mitgebracht, damit du sie dir ansiehst … es sind die Kelche für Graf Rigkert, wir haben sie türkisblau gerändert, alle Welt will sie jetzt so, irgendeine blöde Gräfin hat wohl bei irgendeinem dämlichen Empfang in der Hauptstadt damit herumgeprotzt, darum müssen wir sie jetzt auch türkisblau machen …«
    Andersson wandte den Blick nicht von der Decke.
    »… weißt du, im Moment haben es alle mit den Kristallgläsern aus dem Osten, bessere gibt es angeblich nicht, und diese feine Verarbeitung müsse man gesehen haben – so in dem Stil … und deshalb gehen die Geschäfte nicht gerade glänzend, wir sollten vielleicht was erfinden, und dazu braucht’s dich, Andersson … wir müßten was Geniales erfinden, einen Knüller, irgendwas … Wenn nicht, wirst du wohl noch ein Weilchen warten müssen, bis ich diesen Zug fahren lassen kann, also wenn du sterben willst, mußt du dich schon ranhalten … das heißt, ich wollte sagen … na was ist, Andersson, gefallen sie dir so türkisblau?, hm?, Hand aufs Herz, sind sie nicht schrecklich?, sag schon …«
    Der alte Andersson sah ihn an.
    »Hör mal, Dann …«
    Mr. Rail verstummte.
    »… hör mal.« 
     
    Wie seltsam das Leben doch manchmal spielt. Die beiden Söhne von Rol und Adelaide Fergusson beerdigten ihre Mutter an einem Dienstag. Am Donnerstag abend gingen sie zu Betty Pun, vergewaltigten sie nacheinander und schlugen ihr schließlich mit dem Gewehrkolben den Schädel ein. Sie hatte wunderschönes blondes Haar. Betty Pun. Es war ein Jammer mit all dem Blut. Am Freitag blieb das gleichnamige Kaufhaus geschlossen. 
     
    In das Zimmer ganz links im ersten Stock stellte Pekisch Mrs. Paer, die Süße Wasser singen sollte. In das Zimmer ganz rechts im ersten Stock stellte er Mrs. Dodds, die Die Zeiten des Falken sind entschwunden singen sollte. Beide standen vor einem geschlossenen Fenster, das zur Straße hinausging. In der Mitte auf dem Flur gab ihnen Pekisch mit vier Schlägen auf den Fußboden den Einsatz. Beim vierten sangen sie pünktlich los. Unten auf der Straße war das Publikum. Etwa dreißig Leute, jeder mit seinem Stuhl, den er sich von zu Hause mitgebracht hatte. Mrs. Paer und Mrs. Dodds – wie zwei vom Fenster gerahmte Gemälde – sangen ungefähr acht Minuten lang. Sie hörten gleichzeitig auf, die erste auf einem g, die zweite auf einem äs. Unten auf der Straße kam ein Gesang wie aus weiter Ferne an, und er erinnerte an eine Stimme, die sich zusammengerollt hatte wie ein bedrohtes Insekt. Pekisch hatte das Ganze Stille genannt. Er hatte es insgeheim der Witwe Abegg gewidmet. Sie wußte nichts davon. 
     
    2389. Revolution. Sie bricht los wie eine Bombe und wird erstickt wie ein Schrei. Helden und Blutbäder. Weit weg von hier. 
     
    »Wenn ich doch Augen hätte, mit denen ich aus der Ferne sehen könnte, richtig aus weiter Ferne die Witwe Abegg sehen könnte, wie

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