Land aus Glas
über etwas zu schreiben, dessen Namen jedoch verschwiegen wurde. Eine präzise syntaktische Kathedrale, die über einem Kernpunkt der Schamhaftigkeit errichtet war. Genial.
Hector Horeau hatte in seinem Leben nicht viel gelesen. Und noch nie hatte er etwas so Vollkommenes gelesen. Daher machte er sich eifrig daran, dieses Stück Papier auszuschneiden, damit es dem Schicksal entging, das so manchem Drukkerzeugnis zu Recht vorbehalten war, nämlich in der Vergessenheit des nächsten Tages zu versinken. Er schnitt es aus. Und da fiel sein Blick durch ein unwägbares Spiel zufälliger Überlagerungen und willkürlicher Angrenzungen auf eine kleine Überschrift, die sozusagen mit leiser Stimme auf ein in der Tat nicht allzu denkwürdiges Ereignis hinwies.
Bedeutender Fortschritt in der Glasindustrie.
Und etwas kleiner:
Revolutionäres Patent.
Hector Horeau legte die Schere weg und begann zu lesen. Es waren nur ein paar Zeilen. Sie besagten, daß die preisgekrönte Rail-Glasfabrik, die bereits durch ihre erlesene Produktion edler Kristallwaren bekannt war, ein neues System entwickelt hatte, mit dem hauchdünne Glasscheiben (drei Millimeter) von der Größe eines reichlichen Quadratmeters hergestellt werden konnten. Das System war unter dem Namen »Andersson-Patent der Rail-Glasfabrik« angemeldet worden und stand allen zur Verfügung, die, aus welchen Gründen auch immer, Interesse daran bekundeten.
Es war anzunehmen, daß es nicht besonders viele solcher Leute gab. Aber Hector Horeau war einer von ihnen. Er war Architekt von Beruf und liebäugelte seit jeher mit einem sehr konkreten Gedanken: Die Welt wäre zweifellos besser geraten, wenn man nicht damit angefangen hätte, Häuser und Paläste aus Stein, Ziegeln und Marmor zu bauen, sondern aus Glas. Er hielt hartnäckig an der Vorstellung von durchsichtigen Städten fest. Abends hörte er in der Stille seines kleinen Büros deutlich den Klang des Regens auf den großen Glasarkaden, die die breiten Pariser Boulevards überdachen sollten. Wenn er die Augen schloß, konnte er ihre Geräusche hören und ihre Gerüche ahnen. In seinem Haus lagen unzählige Seiten herum, auf denen flüchtige Skizzen und sorgfältige Entwürfe auf ihre Stunde warteten und die unterschiedlichsten Stadtbauten unter Glas setzten: Bahnhöfe, Märkte, Straßen, Ämter, Kathedralen … Daneben stapelten sich die Berechnungen, mit denen Hector Horeau versuchte, die Utopie in Realität umzusetzen: viel zu komplizierte Operationen, die alles in allem die Grundthese eines der Texte bestätigten, die er zu den wichtigsten Publikationen des letzten Jahres zählte: Arthur Viel, Über die Unfähigkeit der Mathematik, die Stabilität von Bauwerken zu gewährleisten, Paris 1805. Ein Text, den andere nicht einmal für würdig befanden, widerlegt zu werden.
Wenn es folglich einen Mann gab, den die kurze Nachricht aus der Rail-Glasfabrik interessieren konnte, so war das Hector Horeau. Er nahm also die Schere wieder zur Hand, schnitt die Notiz aus, dachte bei sich, daß das Fehlen jeglichen Hinweises zur Adresse der Firma Rail einmal mehr die Unbrauchbarkeit von Zeitungen bestätigte, und verließ eilig das Haus, um sich noch ein paar Informationen zu beschaffen.
Das Schicksal arrangiert seltsame Zusammentreffen. Hector Horeau war noch keine zehn Meter gegangen, als er sah, wie die Welt unmerklich zu schwanken begann. Er blieb stehen. Jeder andere hätte ein Erdbeben vermutet. Er vermutete, daß es wieder dieser gottverdammte Dämon war, der in den unvorhergesehensten Momenten in seinem Kopf herumspukte, dieser unbegreifliche Schuft, dieses elende Gespenst, das ihm die Seele aus heiterem Himmel und ohne Vorwarnung mit diesem Todesgeruch besudelte, dieser heimtückische, feindselige Bastard, der ihn vor der Welt und vor sich selbst lächerlich machte. Ihm blieb gerade noch die Zeit zu überlegen, ob er es wohl noch zurück nach Hause schaffte. Dann brach er zusammen.
Als er wieder zu sich kam, lag er in einem Stoffgeschäft (Pierre und Annette Gallard, seit 1804) auf einem Kanapee – umringt von vier Gesichtern, die ihn ansahen. Das erste war das von Pierre Gallard. Das zweite das von Annette Gallard. Das dritte das eines anonym gebliebenen Kunden. Das vierte das einer Verkäuferin namens Monique Bray. In diesem – gerade in diesem – strandete Hector Horeaus Blick und allgemein sein ganzes Leben und noch allgemeiner auch sein Schicksal. Es war nicht unbedingt das schönste Gesicht, wie der nämliche
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