Land aus Glas
so. Denn vielleicht stand geschrieben, daß all diese Dinge erst eines nach dem anderen ablaufen mußten, bevor dieser Mann kam. Eines nach dem anderen, aber auch ein wenig eines im anderen. Dicht ins Leben gedrängt. Eine Reise von Mr. Rail; der heißeste Sommer der letzten fünfzig Jahre; die Proben des Orchesters; Pehnts violettes Heftchen; die Toten; die reglose Elisabeth; Mormys Schönheit; Pehnts erste Liebe; Milliarden von Wörtern; der letzte Seufzer des alten Andersson; Elisabeth immer noch da; Juns Zärtlichkeiten; die, die geboren wurden; die Tage einer nach dem anderen; achthundert Kristallgläser in allen Formen; Hunderte von Freitagen mit dem Humanophon; das weiße Haar der Witwe Abegg; echte Tränen und falsche; noch eine Reise von Mr. Rail; das erste Mal, da Pekisch der alte Pekisch wurde; zwanzig Meter stumme Schienen; die Jahre eines nach dem anderen; Juns Verlangen; Mormy im Heuschober mit Stitts Händen am Leib; die Briefe von Ingenieur Bonetti; der vor Durst aufplatzende Boden; Ticktels lächerlicher Tod; Pekisch und Pehnt; Pehnt und Pekisch; die Sehnsucht nach der Art, wie Andersson sprach; Haß, der im Kopf in Verrat abglitt; die immer besser passende Jacke; Jun wiedersehen; die Geschichte von Morivar; die unzähligen Töne eines einzigen Orchesters; kleine Wunder; warten, daß er vorbeikommt; sich daran erinnern, wie sie anhielt, unmittelbar bevor sie über das Ende der Schienen hinausschoß; Schwächen und Racheakte; Mr. Rails Augen; Pehnts Augen; Mormys Augen; die Augen der Witwe Abegg; Pekischs Augen; die Augen des alten Andersson; Juns Lippen. Ein Haufen Dinge. Wie ein langes Warten. Es schien, als sollte es nie mehr aufhören. Und vielleicht hätte es nie aufgehört, wenn nicht am Ende dieser Mann gekommen wäre.
Elegant, zerzaustes Haar, eine große Aktentasche aus kastanienbraunem Leder. Auf der Schwelle des Hauses Rail mit einem alten Zeitungsausschnitt in der Hand. Er hält ihn sich dicht vor die Augen und liest etwas, bevor er mit einer abwesend klingenden Stimme sagt:
»Ich suche Mr. Rail … Mr. Rail von der Rail-Glasfabrik.«
»Das bin ich.«
Er steckt den Zeitungsausschnitt wieder ein. Stellt die Aktentasche auf den Boden. Sieht Mr. Rail an, doch nicht in seine Augen.
»Ich heiße Hector Horeau.«
3
Eigentlich hatte alles an dem Tag vor elf Jahren begonnen, als Hector Horeau – der damals elf Jahre jünger war – beim Durchblättern einer Pariser Zeitung nicht umhin konnte, den ungewöhnlichen Werbetext zur Kenntnis zu nehmen, mit dem die Firma Duprat und Co. die Essence d’Amazilly, odorante et antiseptique, Hygiène de toilette ihrem kommerziellen Schicksal anheimgab.
»Abgesehen von den unvergleichlichen Vorteilen, die diese Essenz für die Damenwelt mit sich bringt, besitzt sie zudem reinigende Kräfte, die geeignet sind, das Vertrauen all derer zu gewinnen, die die Freude haben, sich von ihrer therapeutischen Wirkungsweise überzeugen zu lassen. Obgleich unser Wasser natürlich nicht, wie etwa ein Jungbrunnen, über die Macht verfügt, die Zahl der Jahre auszulöschen, hat es doch unter anderem auch das – unserer Meinung nach nicht gering zu schätzende – Verdienst, jenes makellose Organ, jenes Meisterwerk des Schöpfers, das mit der Eleganz, der Reinheit und der Grazie seiner Formen die wunderbare Zierde der schöneren Hälfte der Menschheit darstellt, im vollen Glanz vergangener Pracht wiederherzustellen. Ohne die vielversprechende Anwendung unserer Entdeckung bliebe diese ebenso kostbare wie empfindliche Zierde, die im zarten Liebreiz ihrer geheimnisvollen Formen einer grazilen, beim ersten Unwetter dahinwelkenden Blüte gleicht, nur eine flüchtige Erscheinung des Glanzes, und wäre, einmal erstrahlt, dazu verurteilt, durch den unheilvollen Hauch einer Krankheit, durch die beschwerlichen Anforderungen des Wochenbetts oder durch die unselige Umklammerung eines grausamen Mieders zu verlöschen. Unsere Essenz d’Amazilly, ausschließlich für das Wohl der Damen gedacht, entspricht den unerläßlichen und intimsten Anforderungen ihrer Toilette.«
Hector Horeau dachte unumwunden, daß dies Literatur sei. Die Perfektion dieses Textes verblüffte ihn. Er studierte die Exaktheit der Einschübe, die unmerkliche Verknüpfung der Relativsätze, die höchst raffinierte Dosierung der Adjektive. »Die unselige Umklammerung eines grausamen Mieders«: Hier stand man an der Schwelle zur Poesie. Insbesondere faszinierte ihn die zauberische Fähigkeit, Zeile um Zeile
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