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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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Horeau stand plötzlich keuchend vor der gleichgültigen Schnauze einer schwarzen Lokomotive. Reglos, alle beide. Und stumm. Viel hatten sie sich ja auch nicht zu sagen.
    Als sich das Gerücht von Hector Horeaus Selbstmordversuch in den ihm nahestehenden Pariser Kreisen herumsprach, war die Bestürzung darüber nicht größer als die – allseitige – Erkenntnis, daß so etwas früher oder später ja hatte kommen müssen. Tagelang wurde Hector Horeau mit Briefen, Einladungen, klugen Ratschlägen und gutgemeinten Arbeitsaufträgen verwöhnt. Das ließ ihn alles vollkommen kalt. Er saß eingeigelt in seinem Büro, wo er wie besessen seine Zeichnungen sortierte und Artikel aus alten Zeitungen ausschnitt, die er anschließend alphabetisch nach dem Thema ordnete. Die absolute Sinnlosigkeit dieser beiden Beschäftigungen beruhigte ihn. Schon allein der Gedanke, aus dem Haus zu gehen, weckte seinen Dämonen wieder auf: Er brauchte nur aus dem Fenster zu sehen, um wieder zu spüren, wie die Welt zu schwanken begann, und um erneut diesen Todesgeruch in der Nase zu haben, der seinen unbegründeten Ohnmachtsanfällen für gewöhnlich vorausging. Ihm war klar, daß seine Seele zerschlissen war wie ein verlassenes Spinngewebe. Ein Blick – allein schon ein Blick – hätte sie für immer zerreißen können. So willigte er ein, als ein reicher Freund, Laglandière mit Namen, ihm den sinnlosen Vorschlag unterbreitete, nach Ägypten zu reisen. Es schien ihm eine gute Methode zu sein, sie endgültig zu zerreißen. Im Grunde war es nichts anderes, als einem fahrenden Zug entgegenzulaufen.
    Aber auch das funktionierte nicht. Hector Horeau bestieg an einem Aprilmorgen ein Schiff, das in acht Tagen von Marseille nach Alexandria fuhr, doch sein Dämon blieb unverhofft in Paris zurück. Die Wochen in Ägypten waren eine Zeit der stillen, vorläufigen, doch spürbaren Genesung. Hector Horeau vertrieb sich die Zeit damit, die Baudenkmäler, Städte und Wüsten, die er sah, zu zeichnen. Er fühlte sich wie ein altertümlicher Schreiber, der den Auftrag hat, frisch der Vergessenheit entrissene heilige Schriften zu kopieren. Jeder Stein war ein Wort. Langsam blätterte er in den steinernen Seiten eines vor Jahrtausenden geschriebenen Buches und kopierte es. Auf der Oberfläche dieser dumpfen Übung setzten sich wie Staub auf einer stillen Nippfigur von zweifelhaftem Geschmack allmählich die Gespenster seiner Seele ab. In der glühenden Hitze des unbekannten Landes gelang es ihm, Ruhe zu atmen. Als er nach Paris zurückkam, hatte er die Koffer voller Zeichnungen, deren Meisterschaft die Hunderte von Bürgersleuten, für die Ägypten nach wie vor ein Phantasiegebilde war, begeistern sollte. Er kehrte mit der klaren Erkenntnis in sein kleines Büro zurück, weder ein glücklicher noch ein geheilter Mann zu sein. Doch er war nun wieder ein Mann, der klare Erkenntnisse haben konnte. Das Spinngewebe seiner Seele war wieder zu einer Falle für jene sonderbaren Fliegen geworden, die man Ideen nennt.
    Das ermöglichte ihm, sich für einen Wettbewerb zu interessieren, den die Londoner Gesellschaft der Künste unter dem Vorsitz von Prinz Albert für den Bau eines riesigen Palastes ausschreiben wollte, der in naher Zukunft eine denkwürdige Weltausstellung von Erzeugnissen der Technik und Industrie beherbergen sollte. Der Palast sollte im Hyde Park entstehen und einige Grundanforderungen erfüllen: die Bereitstellung von mindestens fünfundsechzigtausend Quadratmeter überdachter Fläche; die Konzipierung von nur einer Ebene; die Verwendung höchst unkomplizierter Konstruktionssysteme, die in kürzester Zeit zur Verfügung stehen konnten; die Berücksichtigung einer relativ niedrigen Kostengrenze und die Erhaltung der riesigen, jahrhundertealten Ulmen, die in der Mitte des Parks standen. Die Ausschreibung wurde am 13. März 1849 veröffentlicht. Der letzte Termin für die Abgabe der Projekte sollte der 8. April sein.
    Von den siebenundzwanzig Tagen, die Hector Horeau zur Verfügung standen, brauchte er achtzehn, um mit seinen Gedanken um etwas zu kreisen, von dem er nicht wußte, was es sein würde. Es war ein langes, zurückhaltendes Werben. Dann eines Tages, der aussah wie jeder andere, griff er zerstreut nach einem benutzten Löschblatt auf dem Tisch und kritzelte mit schwarzer Tinte zwei Dinge darauf: die Skizze einer Fassade und einen Namen – Crystal Palace. Er legte die Feder aus der Hand. Und er spürte, was ein Spinngewebe spürt, wenn es mit

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