Land aus Glas
Hector Horeau in den kommenden Jahren niemals Schwierigkeiten haben sollte zuzugeben. Doch es gibt Schiffe, die an absurderen Orten gestrandet sind. Ein Leben kann leicht in irgendeinem Gesicht stranden.
Die Verkäuferin namens Monique Bray erbot sich, Horeau nach Hause zu bringen. Er willigte unwillkürlich ein. Gemeinsam verließen sie das Geschäft. Sie wußten es nicht, doch sie waren beide gleichermaßen im Begriff, acht Jahre voller Tragödien, quälender Glücksmomente, grausamer Vergeltungen, geduldiger Racheakte und stiller Verzweiflungen in Angriff zu nehmen. Kurz, sie waren im Begriff, sich zu verloben.
Die Geschichte dieser Verlobung – letztlich die Geschichte der zunehmenden Zerrüttung von Hector Horeaus Seelenleben mit dem anschließenden Triumph des Dämons, der sie ausgelöst hatte – enthielt mancherlei erwähnenswerte Episoden. Ihre erste direkte Auswirkung war jedoch, daß der Zeitungsausschnitt über das »Andersson-Patent der Rail-Glasfabrik« in die Jackentasche des Architekten wanderte, was jede weitere diesbezügliche Nachforschung in unendliche Ferne rückte. Das Papier wurde in einem Schubfach verwahrt, in dem es jahrelang liegenblieb. Oder besser gesagt: unter der Asche schwelte.
In acht Jahren – so lange dauerte die Geschichte mit Monique Bray – zeichnete Hector Horeau für drei Bauwerke verantwortlich: eine Villa in Schottland (aus Mauerwerk), eine Poststation in Paris (aus Mauerwerk) und eine Musterfarm in der Bretagne (aus Mauerwerk). Im selben Zeitraum stellte er einhundertzwölf Projekte vor, von denen achtundneunzig dem Ideal einer gläsernen Architektur gewidmet waren. Es gab praktisch keinen Vergabewettbewerb, an dem er nicht teilnahm. In der Regel waren die Preisrichter von der absoluten Genialität seiner Vorschläge beeindruckt, zollten ihm Lob und Anerkennung und vergaben den Auftrag dann an pragmatischere Architekten. Obwohl damals so gut wie nichts von ihm zu bewundern war, gewann er in einflußreichen Kreisen beharrlich an Ansehen. Er reagierte auf diesen zwiespältigen Erfolg, indem er seine Angebote und Projekte durch eine immer intensivere Hingabe an seinen Beruf vermehrte, der das ängstliche Bestreben zugrunde lag, einen rettenden Halt gegen die stürmischen Fluten seiner Verlobung zu finden und gegen die psychischen und moralischen Unwetter allgemein, die Mademoiselle Monique Bray gewöhnlich für ihn bereithielt. Paradoxerweise strebten seine Projekte in dem Maße, wie seine Gesundheit von dem erwähnten Fräulein ruiniert wurde, unerschwingliche Gigantismen an. Er hatte gerade seinen Entwurf für ein dreißig Meter hohes Napoleon-Denkmal mit Innengängen und Aussichtspunkten auf dem riesigen Lorbeerkranz, der den Kopf krönte, fertiggestellt, als sie ihm zum dritten und keineswegs letzten Mal mitteilte, daß sie ihn verlassen und die bereits eingeleiteten Hochzeitsvorbereitungen abbrechen werde. So kam es – nicht zufällig – zu dem bösen Zwischenfall, nach dem Mademoiselle Monique Bray mit einer tiefen Kopfwunde im Krankenhaus landete, was zu einer Unterbrechung seiner bereits weit fortgeschrittenen Arbeit führte, dem Projekt eines Tunnels unter dem Ärmelkanal mit einem revolutionären Belüftungs- und Beleuchtungssystem, das auf der Basis von auf dem Meeresgrund verankerten Glastürmen funktionierte, die »wie große Fackeln des Fortschritts« triumphierend auf dem Wasser schwimmen sollten. Sein Leben bewegte sich wie eine Schere, und die Genialität seiner Arbeit und die erschütternde Trostlosigkeit seines Lebens bildeten ihre beiden scharfen, immer weiter auseinanderklaffenden Klingen. Sie funkelten gleißend im Strahl einer lautlosen Krankheit.
An einem Montag im August schnappte die Schere plötzlich trocken und endgültig zu. An diesem Tag warf sich Madame Monique Bray Horeau um 17.22 Uhr vor den Zug, der sechs Minuten vorher die Gare de Lyon in Richtung Süden verlassen hatte. Der Zug konnte nicht einmal mehr bremsen. Was von Madame Horeau übrigblieb, wurde nicht nur ihrer – wiewohl wenig auffälligen – Schönheit nicht gerecht, sondern stellte zudem das Bestattungsinstitut »La Celeste«, dem die heikle Aufgabe zukam, den Leichnam wieder zusammenzusetzen, vor nicht geringfügige Probleme.
Hector Horeau reagierte mit aller Konsequenz auf das Unglück. Am folgenden Tag lief er um 11.05 Uhr dem Zug entgegen, der sechs Minuten vorher die Gare de Lyon in Richtung Süden verlassen hatte. Doch der Zug konnte rechtzeitig bremsen. Hector
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