Land aus Glas
der stupiden Flugbahn einer seit Stunden erwarteten Fliege zusammentrifft.
Tag und Nacht arbeitete er die ganze ihm verbleibende Zeit an dem Projekt. Nie hatte er etwas Größeres und Verblüffenderes erfunden. Die Anstrengung zehrte an seinen Gedanken, und eine unterschwellige, fieberhafte Erregung grub sich in seine Zeichnungen und Berechnungen. Ringsumher vergeudete das beliebige Leben seine lauten Geräusche. Er nahm sie kaum wahr. Er ruhte einsam in einer Blase herber Stille, in Gesellschaft seiner Phantasie und seiner Müdigkeit.
Er gab seine Pläne am letztmöglichen Tag ab, dem Morgen des 8. April. Die Jury hatte zweihundertdreiunddreißig Vorschläge aus allen Teilen Europas erhalten. Sie brauchte mehr als einen Monat, um sie alle zu prüfen. Schließlich wurden zwei Gewinner bekanntgegeben. Der erste hieß Richard Turner und war ein Architekt aus Dublin. Der zweite hieß Hector Horeau. Die Gesellschaft der Künste behielt sich allerdings die Möglichkeit vor, »ein eigenes Projekt vorzustellen, das die zweckdienlichsten Anregungen aus den freundlicherweise von allen erlauchten Teilnehmern eingereichten Entwürfen zusammenfaßt«. Zitat Ende.
Horeau hatte nicht erwartet zu gewinnen. Er beteiligte sich an diesen Wettbewerben inzwischen nicht mehr so sehr, um zu gewinnen, sondern vielmehr um des Vergnügens willen, die Preisrichter aus der Fassung zu bringen. Die Tatsache, daß sie unter so vielen anderen diesmal wirklich ihn ausgewählt hatten, ließ ihn einen Augenblick argwöhnen, eine Banalität eingereicht zu haben. Doch dann siegte die Gewißheit, die in den acht Jahren, die er neben Mademoiselle Monique Bray (der späteren Madame Monique Horeau) verbracht hatte, in ihm herangereift war: daß nämlich das Leben im Grunde widersprüchlich ist und die Vorhersehbarkeit der Ereignisse nichts als ein trügerischer Trost. Er erkannte, daß der Crystal Palace nicht wie all seine anderen Projekte im Nichts einer unwahrscheinlichen Zukunft herumgeisterte: Er sah ihn vor sich, auf der Schwelle zwischen Utopie und realer Wirklichkeit, nur einen Schritt davon entfernt, unversehens wahr zu werden.
Die Konkurrenz des anderen Gewinners, Richard Turner, beunruhigte ihn nicht. In dem Entwurf des eifrigen Architekten aus Dublin steckten dermaßen viele Patzer, daß Horeau schon allein um sie in alphabetischer Reihenfolge aufzuzählen, die Gesellschaft der Künste eine ganze Nacht aufgehalten hätte. Wirklich beunruhigend für ihn waren dagegen die unkontrollierbare Zufälligkeit der Ereignisse, die unerforschliche Unvernunft der Bürokratie und die anonyme Macht des Königshauses. Dazu kamen am Tag nach der Veröffentlichung seines Entwurfs in einem bekannten Hauptstadtmagazin noch die widersprüchlichen Reaktionen der breiten Öffentlichkeit. Die unerhörte Originalität des Palastes teilte die Leute in drei Lager, die sich in der prompten Allgemeingültigkeit dreier Aussagen zusammenfassen lassen: »Das ist das achte Weltwunder!«, »Das kostet ein Vermögen!« und »Stell dir vor, das steht dann da!« In der Zurückgezogenheit seines kleinen Büros war der scharfsinnige Hector Horeau davon überzeugt, daß im Grunde alle drei berechtigt waren.
Er erkannte, daß eine zusätzliche Erfindung nötig war, etwas, das dem Charme des Crystal Palace ein Fundament der Glaubwürdigkeit und einen beruhigenden Anstrich von Realitätssinn verlieh. Er suchte nach einer Lösung, und die überraschte ihn, wie es so oft geschieht, hinterrücks, als er den geheimnisvollsten aller Wege zurückverfolgte – den Weg der Erinnerung. Es war wie ein leichter Windhauch. Ein Luftzug, der den Riegeln der Vergessenheit entschlüpft war. Fünf Wörter: »Andersson-Patent der Rail-Glasfabrik«.
Es gibt Handlungen, die erst Jahre später ihre Berechtigung finden. Postume Vernünftigkeiten. Das stumpfsinnige Sortieren von Zeitungsausschnitten, mit dem Hector Horeau in den Zeiten, da Madame Horeau und der 17.16-Uhr-Zug Richtung Süden zusammenstießen, seinen Untergang hinausgezögert hatte, erwies sich plötzlich als keineswegs sinnlos. Der Ausschnitt mit der kleinen Meldung über das Andersson-Patent lag ordentlich in der Mappe mit dem Buchstaben M (Merkwürdigkeiten). Horeau nahm ihn heraus und begann seine Koffer zu packen. Er hatte weder eine Ahnung, wo sich die Rail-Glasfabrik befand, noch ob sie überhaupt noch existierte. Nichtsdestotrotz – und zum Beweis dafür, daß die Wirklichkeit ihre eigene widersprüchliche, aber wirksame Logik
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