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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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hat – sah man im einzigen Gasthof von Quinnipak (Pension Berrimer) einige Tage später einen Mann mit einer großen kastanienbraunen Aktentasche und merkwürdig zerzaustem Haar ankommen. Er suchte natürlich ein Zimmer, und er hieß natürlich Hector Horeau.
    Es war ein Freitag. Das erklärt, warum Horeau, der sich nach der zermürbenden Reise schon früh zurückgezogen hatte, es fertigbrachte, wenig und schlecht zu schlafen.
    »Hat da gestern abend zufällig jemand Musik gemacht oder so was?« erkundigte er sich am nächsten Morgen, während er versuchte, seine Kopfschmerzen in einer Tasse Kaffee zu ertränken.
    »Gestern abend hat das Orchester geprobt«, antwortete ihm Ferry Berrimer, der nicht nur der Besitzer der Pension war, sondern auch das tiefste fis des Humanophons.
    »Ein Orchester?«
    »Allerdings.«
    »Es hörte sich an wie sieben. Wie sieben Orchester.«
    »Nein, nur eins.«
    »Spielt es denn immer so?«
    »Wie – so?«
    Horeau trank seine Tasse aus.
    »Schon gut.«
    Die Rail-Glasfabrik – fand er heraus – gab es noch. Sie lag ein paar Kilometer außerhalb des Städtchens.
    »Aber sie ist nicht mehr wie früher, jetzt, wo Andersson nicht mehr da ist.«
    »Der Andersson mit dem Patent?«
    »Der Andersson, der der alte Andersson war. Jetzt ist er nicht mehr da. Und es ist nicht mehr wie früher.«
    Zum Haus von Mr. Rail, das oberhalb der Glasfabrik auf einem Hügel lag, gelangte er in Arolds Kutsche. Er fuhr diese Strecke jeden Tag. Arold.
    »Hören Sie, kann ich Sie mal was fragen?«
    »Fragen Sie.«
    »Dieses Orchester … das da im Städtchen spielt … spielt das immer so?«
    »Wie – so?«
    Arold setzte ihn an der Abzweigung ab, von der aus der Weg zum Hause Rail hinaufführte. Horeau wollte ihm Geld geben, aber das kam gar nicht in Frage. Er fuhr diese Strecke jeden Tag. Wirklich. Tja, na dann danke. Keine Ursache. Den Steinen folgend, die mitten durch die Wiese hügelauf führten, stieg Horeau zum Haus Rail hinauf und dachte, was jeder gedacht hätte, nämlich daß es schön sein mußte, hier zu wohnen. Ringsumher war die selbstverständliche Schönheit einer fügsamen und vorschriftsmäßigen Landschaft zu sehen. Nur eines brachte ihn kurzzeitig aus der Fassung, nur eines: »Komische Stelle für ein Eisenbahndenkmal«, ging es ihm durch den Kopf. Dann zog er weiter.
    Er kam gerade rechtzeitig an der Haustür an, um zu sehen, wie diese sich öffnete und einen Mann hinausließ. Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein. Groß, brünett, mit sonderbaren Augen. Eine lange Narbe lief von seiner linken Schläfe bis unter sein Kinn. Horeau fühlte sich wie ertappt. Er griff nach dem Zeitungsausschnitt in seiner Tasche: Wie zum Teufel war das noch? Bail, Barl, Ral, nein, Rail, ja genau, Rail.
    »Ich möchte zu Mr. Rail … Mr. Rail von der Rail-Glasfabrik.«
    »Das bin ich«, antwortete lächelnd der Mann mit der langen Narbe und den sonderbaren Augen.
    Horeau steckte den Zeitungsausschnitt wieder ein, stellte die dicke Lederaktentasche auf den Boden und schaute zu den Augen des Mannes vor ihm auf. Kurz bevor er dort ankam, bei diesen sonderbaren Augen, sagte er:
    »Ich heiße Hector Horeau.« 
     
    Zuerst aßen sie. Der Tisch oval, die Teller mit Goldrand, das Tischtuch aus Leinen. Mr. Rail hatte eine angenehme Art zu sprechen. Mit dem Messer ordnete er die Brotkrümel, die er neben dem Teller fand, in einer Reihe an, verstreute sie dann mit den Fingern und ordnete sie erneut in immer längeren Reihen. Weiß der Himmel, wo er das gelernt hatte. Neben ihm saß eine Frau, die Jun hieß. Horeau fiel auf, daß sie sich wie ein junges Mädchen kleidete. Ihm fiel auch auf, daß er noch nie ein so schönes Mädchen gesehen hatte. Er freute sich, wenn sie sprach. Dann konnte er ihre Lippen betrachten, ohne indiskret zu erscheinen. Sie fragte ihn nach Paris. Sie wollte wissen, wie groß es war.
    »Groß genug, um sich darin zu verlaufen.«
    »Und ist es schön?«
    »Wenn man am Ende den Rückweg findet, ja … sehr schön.«
    Es saß auch ein Junge mit am Tisch. Er war Mr. Rails Sohn und hieß Mormy. Er sagte kein Wort. Er aß mit sehr langsamen und schönen Bewegungen. Horeau verstand nicht recht, wie es kam, daß er die Haut eines Mulatten hatte, denn weder Mr. Rail noch Jun waren von dunkler Hautfarbe. Dafür verstand er aber, als er kurz auf den Blick des Jungen traf, was an den Augen von dessen Vater so sonderbar war: Es waren verwunderte Augen. In dem totalen, vollkommenen Staunen, das Mormys

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