Land aus Glas
gleichmütiger und starrer Blick verriet, lag das, was in Mr. Rails Augen nur als Andeutung vorhanden war. So mußte das wohl sein – die Sache mit den Kindern, dachte Horeau. Sie werden mit dem geboren, was das Leben ihren Vätern nur zur Hälfte gegeben hat. Sollte ich je ein Kind haben, dachte Horeau, während er sorgfältig eine dünne Scheibe Fleisch in Heidelbeersoße zerschnitt, kommt es verrückt zur Welt.
Sie waren fertig mit dem Essen und standen auf. Alle außer Mormy, der noch die Suppe schlürfte, und kein Mensch wußte, wie lange er dazu brauchen würde. Jun ließ sie allein.
»Sie sollten irgendwann mal nach Paris kommen …«, sagte Horeau, als er sich von ihr verabschiedete.
»Nein … Ich glaube nicht, daß ich das sollte. Wirklich nicht.«
Doch sie sagte es fröhlich. Man muß es sich fröhlich gesprochen vorstellen. »Nein … Ich glaube nicht, daß ich das sollte. Wirklich nicht.« Einfach so.
»Dreihundertfünfzig Meter?«
»Ja.«
»Fünf Querschiffe, dreihundertfünfzig Meter lang und dreißig hoch?«
»Genau.«
»Und das alles … das alles aus Glas.«
»Glas. Eisen und Glas. Nicht ein Gramm Stein oder Mörtel, nichts davon.«
»Und Sie glauben im Ernst, daß das stehen bleibt?«
»Nun ja, das hängt gewissermaßen von Ihnen ab.«
Hector Horeau und Mr. Rail einander gegenüber, dazwischen der Tisch. Und auf dem Tisch ein Bogen Papier von einem Meter Länge und sechzig Zentimetern Breite. Und auf dem Blatt der Entwurf des Crystal Palace.
»Von mir?«
»Sagen wir, vom ›Andersson-Patent der Rail-Glasfabrik‹ … Sehen Sie, natürlich gibt es Probleme beim Bau einer so riesigen … sagen wir: gläsernen Kathedrale. Strukturelle und wirtschaftliche Probleme. Das Glas muß sehr leicht sein, damit das Tragwerk es halten kann. Und je dünner es ist, umso weniger Rohmaterial brauchen wir, und umso weniger kostet es auch. Darum ist Ihr Patent so wichtig. Wenn Sie wirklich in der Lage sind, Glasscheiben herzustellen, wie sie in diesem Zeitungsausschnitt beschrieben sind, kann ich den Crystal Palace so bauen, daß er stehen bleibt …«
Mr. Rail warf einen Blick auf das vergilbte Stück Papier.
»Drei Millimeter dick und einen Quadratmeter groß … ja, so in etwa geht es … Andersson war der Meinung, man könnte sie noch größer machen … Doch das hätte bedeutet, vier oder sogar fünf herstellen zu müssen, um eine gute zu bekommen. Aber so können wir es schaffen, eine von zweien zu retten … so in etwa …«
»Wer ist Andersson?«
»Nun ja, jetzt ist Andersson niemand mehr. Aber früher war er ein Freund von mir. Er war ein guter Kerl, und er wußte alles über Glas. Alles. Er hätte uns alles mögliche machen können … er hätte uns sogar riesige Kugeln machen können, wenn er nur gewollt hätte, oder die Zeit gehabt hätte …«
»Kugeln?«
»Ja, Glaskugeln … riesengroße … aber das ging nur uns beide an … das hat mit … mit den Scheiben und all dem nichts zu tun … nicht so wichtig.«
Hector Horeau schwieg. Mr. Rail schwieg. Stille legte sich auf den Entwurf des Crystal Palace. Er sah aus wie ein riesiges Gewächshaus mit nichts weiter als drei gigantischen Ulmen darin. Er sah aus wie ein kompletter Unsinn. Aber man mußte ihn sich mit tausend Menschen darin vorstellen und mit einer enormen Orgel im Hintergrund, mit Springbrunnen und hölzernen Rollbändern, mit Produkten aus aller Welt, mit Schiffsteilen, wunderlichen Erfindungen, ägyptischen Statuen, Lokomotiven, Unterseebooten, Stoffen in allen Farben, unaufhaltsamen Waffen, nie gesehenen Tieren, Musikinstrumenten, wandgroßen Gemälden, Fahnen überall, Kristallgläsern, Juwelen, Flugmaschinen, Grabmälern, Teichen, Pflügen, Globen, Lastwinden, Räderwerken, Glockenspielen. Man mußte sich die Geräusche, die Stimmen, die Klänge, den Geruch, die tausend Gerüche vorstellen. Und vor allem: das Licht. Das Licht, das darin sein würde … Darin wie nirgendwo anders auf der Welt.
Horeau beugte sich über die Zeichnung.
»Wissen Sie … manchmal stelle ich mir vor … ich stelle mir vor, daß ich, wenn alles fertig ist und der letzte Arbeiter den letzten Handgriff getan hat, alle hinausschicke … alle … und dann gehe ich allein hinein und lasse alle Türen schließen. Es wird nicht ein Laut darin sein, nichts. Nur meine Schritte. Und ich werde langsam bis zur Mitte des Crystal Palace gehen. Langsam, Meter um Meter. Und wenn die Welt dann nicht anfängt, rings um mich her zu schwanken, werde ich
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