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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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herrschte noch eine kleine Stille, die wie eine Seifenblase in der Luft schwebte.
    »Es tut mir leid … Verzeihung … Verzeihung.«
    Hector Horeau wollte nicht, aber schließlich überzeugten sie ihn doch, die Nacht über zu bleiben. Er konnte am nächsten Tag zurückfahren, es kam gar nicht in Frage, daß er nach dem, was er durchgemacht hatte, eine so anstrengende Reise antrat. Sie gaben ihm das Zimmer, das auf den Obstgarten hinausging. Weißgelbe Tapeten, ein schmales Bett mit spitzenbesetztem Baldachin. Ein Teppich, ein Spiegel. Die Morgenröte erstrahlte direkt vor seinen Augen. Es war ein schönes Zimmer. Jun hatte Blumen auf den Tisch gestellt. Weiße Blumen.
    Auf der Veranda, in der drückenden Abendluft, hörte Mr. Rail Hector Horeau zu, der erzählte, wie reglos Ägypten war.
    Er erzählte langsam. In einem fort. Doch plötzlich brach er ab und flüsterte zu Mr. Rail gewandt: »Wie hat mein Gesicht ausgesehen?«
    »Wann?«
    »Unten, in der Glasfabrik, heute nachmittag.«
    »Wie das Gesicht eines Entsetzten.«
    Er wußte es. Hector Horeau. Er wußte nur zu gut, wie sein Gesicht ausgesehen hatte. An diesem Nachmittag unten in der Glasfabrik und all die anderen Male.
    »Manchmal denke ich, daß diese ganze Sache mit dem Glas … mit dem Crystal Palace und mit all meinen anderen Projekten … also, manchmal denke ich, daß nur ein verschreckter Mann wie ich auf so eine fixe Idee kommen konnte. Etwas anderes steckt im Grunde nicht dahinter … Angst, einfach nur Angst … Verstehen Sie? Es ist der Zauber des Glases … zu schützen, ohne einzusperren … An einem Ort zu sein und in alle Richtungen schauen zu können, ein Dach über dem Kopf zu haben und doch den Himmel zu sehen … sich drinnen und draußen zu fühlen, zu gleicher Zeit … eine List, nichts als eine List … Wenn Sie etwas wollen und doch Angst davor haben, brauchen Sie nur eine Glasscheibe dazwischenzuschieben … zwischen sich und dieses Etwas … Dann kann es hautnah an Sie herankommen, und Sie bleiben trotzdem in Sicherheit … Das ist schon alles … ich setze Teile der Welt unter Glas, weil das ein Weg ist, sich zu retten … dort hinein flüchten sich die Wünsche … in Sicherheit vor der Angst … ein wunderbares, durchsichtiges Versteck … Verstehen Sie, verstehen Sie das alles?«
    Vielleicht verstand er das alles. Mr. Rail. Er dachte daran, daß die Zugfenster aus Glas waren. Er bezweifelte, daß das etwas zu bedeuten hatte, aber so war es. Er dachte an das einzige Mal in seinem Leben, da er wirklich Angst gehabt hatte. Er dachte, daß er sich nie vorgestellt hatte, irgendeine Zuflucht für seine Wünsche finden zu müssen. Sie kamen ihm in den Sinn und damit basta. Sie waren da. Schluß, aus. Und trotzdem verstand er das alles, doch ja, irgendwie mußte er es verstanden haben, denn statt zu antworten, sagte er schließlich nur: »Wissen Sie was, Monsieur Horeau? Ich bin froh, daß Sie hier vorbeikommen mußten, um zu diesem Punkt unter den Ulmen mitten im Crystal Palace zu gelangen. Und das nicht wegen der Glasscheiben oder wegen des Geldes … nicht nur deswegen … sondern weil Sie so sind, wie Sie sind. Sie machen sehr große und sehr merkwürdige Glaskugeln. Und es ist schön, in sie hineinzuschauen. Wirklich wahr.«
    Horeau fuhr am nächsten Tag in aller Frühe ab. Er hatte seine Haltung eines erfolgreichen Architekten, seine Sicherheit und seine Selbstbeherrschung wiedergewonnen. Einmal mehr stellte er fest, daß seine Seele keinen Mittelweg zwischen Triumph und Niederlage kannte. Mit Mr. Rail hatte er alle Einzelheiten in bezug auf die Lieferung für den Crystal Palace besprochen. Mengen, Preise, Liefertermine. Mit einem entscheidenden Trumpf im Ärmel, den er nun gegen die Skepsis der Leute ausspielen konnte, kehrte er nach Paris zurück. Mr. Rail brachte ihn bis zur Straße hinunter, wo Arold auf ihn wartete. Er kam jeden Tag hier vorbei. Arold. Es machte ihm nichts aus, kurz anzuhalten und diesen merkwürdigen Herrn mit dem zerzausten Haar mitzunehmen. Wirklich nicht. Na dann danke. Keine Ursache.
    »Die Kommission müßte sich innerhalb von sechzig Tagen entscheiden. Sie wird vielleicht ein bißchen länger brauchen. Aber in spätestens drei Monaten bekommen wir Bescheid. Dann werde ich Ihnen sofort telegraphieren.«
    Sie standen sich gegenüber, während Arold auf der Kutsche saß und eine seiner besten Übungen praktizierte: absolute Abwesenheit.
    »Hören Sie, Horeau, darf ich Sie was

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