Land aus Glas
zu guter Letzt genau in der Mitte ankommen, unter den Ulmen, und stehenbleiben. Und … dort, genau dort, ich weiß es, ist der Ort, an dem ich letztlich ankommen sollte. Von weither, von irgendwo bin ich immer nur auf diesen einen Punkt zugesteuert, auf diesen Quadratmeter Holz auf dem Grund eines riesigen Trinkglases. Dann, an jenem Tag, werde ich am Ende meines Weges sein. Danach … alles, was danach geschieht … ist nicht mehr wichtig.«
Mr. Rail starrte auf diesen Punkt genau unter den drei gigantischen Ulmen. Er sagte nichts, denn er stellte sich einen Mann vor, der auf diesem Punkt stand, mit zerzaustem Haar, unendlich müde und ohne einen Ort, wohin er noch hätte gehen können. Aber dann sagte er doch etwas.
»Das ist ein schöner Name.«
»Welcher?«
»Crystal Palace … Es ist ein schöner Name … dem alten Andersson hätte er gefallen … das Ganze hier hätte dem alten Andersson gefallen … er hätte die schönsten Glasscheiben, die überhaupt möglich sind, für Sie gemacht … er hatte eine glückliche Hand für so was, wirklich …«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie mir diese Glasscheiben ohne ihn nicht machen?«
»O nein, das will ich damit nicht sagen! … Natürlich können wir sie machen … drei Millimeter dick, vielleicht auch ein bißchen dünner … doch, ich glaube, wir können sie machen, ich meinte nur … mit Andersson wäre es anders gewesen, weiter nichts … aber … darauf kommt es nicht an. Sie können sich auf uns verlassen. Wenn Sie diese Glasscheiben haben wollen, bekommen Sie sie. Ich wollte nur noch wissen … wo man auf dem Entwurf erkennt, wo sie aufhören.«
»Wo sie aufhören? Na, überall hören sie auf!«
»Wo – überall?«
»Irgendwo … Es ist alles aus Glas, sehen Sie? Die Wände, das Dach, das Querschiff, die vier großen Eingänge … alles Glas …«
»Wollen Sie damit sagen, daß das alles mit drei Millimeter dickem Glas hält?«
»Eigentlich nicht. Der Palast wird von Eisen gehalten. Das Glas macht den Rest.«
»Den Rest?«
»Ja … also … das Wunder. Das Glas vollbringt das Wunder, die Magie … In etwas hineinzugehen und das Gefühl zu haben, hinauszugehen … Im Schutz von etwas zu sein, das einem in keiner Richtung den Blick in die Ferne verwehrt … Draußen und drinnen zugleich … in Sicherheit und doch frei … Das ist das Wunder, und vollbracht wird es vom Glas, nur vom Glas.«
»Aber dann braucht man ja Tonnen davon … Um das alles zu überdachen braucht man irrsinnig viele Scheiben!«
»Neuntausend. Ungefähr neuntausend. Was wohl bedeutet, daß doppelt so viele hergestellt werden müssen, stimmt’s?«
»Ja, so in etwa. Um neuntausend zu erhalten, muß man mindestens zwanzigtausend herstellen.«
»So was hat bis jetzt noch niemand gemacht, wußten Sie das?«
»Auf eine so verrückte Idee ist bis jetzt noch niemand gekommen, wußten Sie das?«
Sie schwiegen eine Weile, diese beiden, einer so vor dem anderen und jeder mit einer Geschichte hinter sich, jeder mit seiner.
»Werden Sie es schaffen, Mr. Rail?«
»Ich ja. Und Sie?«
Horeau lächelte.
»Wer weiß …«
Sie waren unten in der Glasfabrik und sahen sich die Öfen, die Kristallgläser und das alles an. Sie waren dort, als Hector Horeau plötzlich blaß wurde und nach einem Pfeiler suchte, um sich festzuhalten. Mr. Rail sah, wie sich auf seinem ganzen Gesicht Schweißperlen bildeten. Ein dumpfer Seufzer drang aus seiner Kehle, leise, als käme er von weither. Aber es klang nicht, wie wenn jemand um Hilfe bittet. Es war das Echo eines stillen Kampfes. Eines verborgenen. Auch deshalb fiel es niemandem ein, sofort zu ihm zu gehen. Ein paar Arbeiter blieben stehen. Mr. Rail blieb stehen. Doch alle verharrten reglos einige Schritte entfernt von diesem Mann, der – offensichtlich – ein rätselhaftes Duell ausfocht, das nur ihn betraf. Da war er, und da war etwas, das ihn innerlich zerfraß. Die anderen zählten nicht. Wo immer Hector Horeau sich in diesem Moment befand, er war dort jedenfalls allein.
Es dauerte nur ein paar Sekunden. Sehr lange Sekunden.
Dann erstarb der dumpfe Seufzer in Hector Horeaus Kehle und in seinen Augen die Angst. Er zog ein albernes großes rotes Taschentuch aus der Tasche und trocknete sich die Stirn ab.
»Ich bin nicht in Ohnmacht gefallen, oder?«
»Nein«, antwortete Mr. Rail, der endlich zu ihm ging und ihm seinen Arm bot.
»Es geht schon viel besser, keine Sorge … ich schaff das schon … es geht schon viel besser.«
Ringsumher
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