Land der Erinnerung
seinen eingehenden Analysen der ausgewählten Stücke, daß ich ihn schließlich dazu überredete, die Auszüge durchzugehen und mit detaillierten Anmerkungen zu versehen.
Zuerst vermutete er, ich wollte ihn aufziehen, aber nachdem ich ihn von der Wichtigkeit seiner Arbeit überzeugt hatte, kannte seine Dankbarkeit keine Grenzen. Er machte sich daran wie ein Wiesel und verfolgte jeden nur denkbaren Faden, der zur Erhellung des Problems führen mochte. Wenn man ihn arbeiten sah, konnte man meinen, er habe einen Auftrag von Gallimard erhalten. Mir schien, als arbeite er fleißiger und sorgfältiger als Proust selbst. Alles nur, um zu beweisen, daß er fähig sei, ein ehrliches Tagewerk zu erfüllen.
Ich kann mich an keinen Abschnitt meines Lebens
erinnern, in dem die Zeit rascher verstrich als damals in Clichy. Die Anschaffung zweier Fahrräder bewirkte eine gründliche Veränderung unseres Tagesablaufs. Alles wurde so ge-plant, daß es unseren nachmittäglichen Fahrten nicht in die Quere kam. Um Punkt vier Uhr war Fred mit seinen zwei Seiten fertig. Ich sehe ihn noch vor mir, wie 'er im Hof seinen Renner ölt und poliert. Er bedachte ihn mit der gleichen liebenden Pflege, die er an seine Schreibmaschine verwandte. Er hatte jedes Zubehörteil, das sich daran befestigen ließ, ein-schließlich eines Tachometers. Manchmal schlief er nur drei oder vier Stunden, damit er eine lange Ausfahrt, zum Beispiel nach Versailles oder Saint-Germain-en-Laye, machen konnte.
Während der Tour de France gingen wir jeden Abend ins Ki-no, um den Verlauf des Rennens zu verfolgen. Wenn die Sechstagerennen im Vel' d'Hiv' stattfanden, waren wir dort, bereit, die ganze Nacht aufzubleiben.
Von Zeit zu Zeit machten wir dem Médrano einen Be-
such. Wenn mein Freund Renaud von Dijon herkam, wagten wir uns sogar ins Bai Tabarin oder ins Moulin-Rouge, obwohl wir diese Orte verabscheuten. Das Kino jedoch war die Hauptquelle der Erholung; woran ich mich immer im Zusam-menhang mit dem Kino erinnern werde, das ist die ausge-70
zeichnete Mahlzeit, die wir uns einverleibten, ehe wir in den Saal gingen. Eine Mahlzeit und dann ein paar gemächliche Augenblicke an einer Bar bei einem café arrosé de rhum .
Dann auf einen Sprung in die nächsten pissotière mitten im brausenden Verkehr und dem Geschiebe der müßigen Menge.
Während der Pause noch einen kurzen Besuch im bistrot , noch einen Besuch der Bedürfnisanstalt. Bis sich der Vorhang hob, schmatzten wir einen Erdnußriegel oder schleckten einen Es-kimo. Simple Freuden, läppische, so schien es manchmal.
Beim Nachhausegehen auf der Straße begann dann ein Gespräch, das oft bis zum Morgengrauen dauerte. Manchmal kochten wir uns kurz vor Tagesanbruch eine Mahlzeit, gössen uns einige Flaschen Wein hinter die Binde und verfluchten dann, reif für den Strohsack, die Vögel, weil sie solchen Radau machten.
Einige der heikleren Episoden, die in diese idyllische Zeit gehören, habe ich in ‹Quiet Days in Clichy› und ‹Mara-Marignan› erzählt - Texten, die in England oder Amerika leider nicht zu veröffentlichen sind. Es ist seltsam, daß mir diese Tage immer als quiet days in Erinnerung sind. Sie waren alles andere als ruhig. Und doch habe ich nie mehr geschafft als damals. Ich arbeitete an drei oder vier Büchern gleichzeitig.
Ich schäumte über vor Ideen. Die avenue Anatole-France, an der wir wohnten, war ganz und gar nicht malerisch; sie glich einem monotonen Teil der oberen Park Avenue in New York.
Vielleicht verdankten wir unsere Schaffenskraft dem Umstand, daß wir uns zum erstenmal seit vielen Jahren einer Lage erfreuten, die vielleicht als relative Sicherheit bezeichnet werden darf. Zum erstenmal seit undenklichen Zeiten hatte ich eine feste Adresse, etwa ein Jahr lang.
Als ich in die Villa Seurat einzog, entstand eine ganz neue Atmosphäre. Nachdem Fred ein halbes Dutzend verschiedener Quartiere ausprobiert hatte, mietete er sich schließ-
lich in der Nähe, in der impasse du Rouet, ein. Hier wohnten unsere gemeinsamen Freunde, David Edgar und Hans Reichel.
Später kam Lawrence Durrell aus Griechenland dazu. Sein Erscheinen in unserer Mitte wirkte wahrhaft sensationell. Er war elektrisierend. Frisch aus der Welt des Mittelmeers einge-71
troffen, war er nur allzu bereit, sich in das zu stürzen, was er für das ‹dekadente› Leben von Paris hielt. Statt Ausschwei-fungen fand er eine Welt von Rabelais'scher Lustigkeit. Wenn ich schon mit Fred lange und herzlich gelacht
Weitere Kostenlose Bücher