Land der Mythen 01 - Unter dem Erlmond
Beeindruckt durchschritt Leffel den hohen Torbogen – und befand sich daraufhin in einer anderen Welt.
So viel Betriebsamkeit, so viele Menschen und so viele bunte Farben an einem Ort hatte er noch nie gesehen. Und noch niemals zuvor hatte er solchen Lärm gehört.
Auf der Hauptstraße, die vom Tor schnurgerade zum Großen Turm führte, herrschte das reinste Durcheinander. Aus beiden Richtungen strömten Menschen – Landvolk, Städter, Arbeiter und Kaufleute, aber auch vornehme Herren auf stolzen Pferden. Dazwischen drängten sich Viehhändler, die unter lautem Geschrei versuchten, ihre Schaf- und Schweineherden beisammen zu halten, und Maultiertreiber, deren Tiere schwer beladen waren. Auch Kutschen und Karren suchten einen Weg durch das wogende Chaos.
Entlang der Häuser waren Stände aufgebaut, an denen Händler lauthals ihre Waren feilboten: Gemüse und Kranzbrot, Käse und Fleisch, Milch und Eier, Dunkelbier und Wein, Salz und Gewürze, aber auch Gegenstände wie Werkzeuge und Geschirr, Kleidung und Felle, Waffen zur Jagd und noch vieles andere mehr.
Staunend ging Leffel von Stand zu Stand. Auch auf dem Markt im Egg gab es Dinge zu kaufen, allerdings nicht in dieser Auswahl und schon gar nicht zu solchen Preisen. Allenthalben wurde gefeilscht und gehandelt, dass Leffel ganz anders wurde, und er fand, dass die Leute in der Stadt einen ziemlich rauen Umgang pflegten. Mehrmals geriet er fast unter die Räder eines Fuhrwerks, weil er so damit beschäftigt war, nach allen Seiten zu gucken, zu horchen und zu schnuppern, dass er seine nähere Umgebung ganz vergaß. Dann wurde er wüst beschimpft und flüchtete rasch zum Straßenrand.
Einer der Stände zog Leffels Aufmerksamkeit besonders an – schon wegen des strengen Geruchs. Über glühenden Holzkohlen hatte der Verkäufer ein Rost liegen, auf dem – der Gilg traute seinen Augen nicht – kleine Tiere gegrillt wurden, die etwa so groß wie seine Handflächen waren. Ein wenig sahen sie aus wie Frösche, aber aus ihrem Rücken ragten die Ansätze kleiner Flügel.
»Flügelfrösche am Stiel gefällig?«, fragte der Verkäufer in beiläufigem Ton.
Wie immer war Leffel einem kleinen Happen nicht abgeneigt, zumal er seinen kargen Proviant längst aufgebraucht hatte. Außerdem war er neugierig darauf, was die Küche Iónadors zu bieten hatte. Aus dem kleinen Lederbeutel, den er am Gürtel trug, kramte er zwei Geldstücke hervor und gab sie dem Verkäufer, der ihm dafür ein besonders fettes Exemplar aussuchte. Im nächsten Moment kaute Leffel bereits mit vollen Backen an seinem Flügelfrosch, der, wie er fand, nach gebratenem Gockel schmeckte.
Schmatzend folgte er der breiten Straße, an deren Ende sich majestätisch der Große Turm erhob. Der Trubel lichtete sich, und auch der Lärm ließ etwas nach. Das Geschrei der Händler und ihrer feilschenden Kunden fiel zurück, und Leffel hatte endlich Zeit, die Häuser Iónadors zu betrachten.
Zwei oder drei Stockwerke hoch ragten sie zu beiden Seiten der Hauptstraße auf, steinerne Bauten mit hohen Fenstern und Türen. Die meisten Häuser hatten in den oberen Stockwerken Balkone mit steinernen, kunstvoll gearbeiteten Balustraden, von denen bunte Banner hingen, die der Straße ein prächtiges Aussehen verliehen.
Als Leffel allerdings eine Kreuzung passierte und einen Blick in die Querstraße warf, konnte er sehen, dass der Prunk nicht allgegenwärtig war in Iónador. Denn in den Straßen und Gassen, die von der Hauptstraße zweigten, waren die Häuser weit weniger groß und prächtig; die Fassaden waren grau und zum Teil brüchig, und in dunklen Hauseingängen sah Leffel abgerissene Gestalten in ärmlicher Kleidung oder gar Lumpen.
Wie, fragte er sich, passte das zum Glanz der Goldenen Stadt? Wie zu dem Überfluss, der entlang der Hauptstraße herrschte? Wussten die Fürsten überhaupt, dass es in ihrer Stadt solche Armut gab?
»He da! Sieh dich vor, du ungeschickter Tölpel!«
Erschrocken blickte Leffel auf. Achtlos hatte er die Straße überquert und war vor die Hufe eines prächtigen Rosses geraten, auf dem ein hoher Herr in samtenen Gewändern saß.
»Kannst du nicht besser aufpassen, Bursche? Siehst du nicht, dass du mir im Weg bist?«
»V-ver-verzeiht, Herr«, brachte Leffel stammelnd hervor und verbeugte sich so bäuerlich und ungeschickt, dass sowohl der Ritter als auch das Pferd nur ein verächtliches Schnauben für ihn übrig hatten. Erhobenen Hauptes ließen sie ihn stehen, und Leffel nahm sich vor,
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