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Land der Mythen 01 - Unter dem Erlmond

Land der Mythen 01 - Unter dem Erlmond

Titel: Land der Mythen 01 - Unter dem Erlmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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dunkelgrünem Wasser sie sich spiegelte. Bei klarem und windstillem Wetter konnte man fast den Eindruck gewinnen, dass es in Wirklichkeit zwei Städte wären, von denen eine kopfüber stand.
    Über den See führte die alte steinerne Brücke, die in zahllosen Liedern besungen wurde, weil auf ihr einst der Krieg zwischen den Bergbewohnern und dem Waldvolk entschieden worden war. Sie mündete auf jener Zugbrücke, die seit den Tagen der Bergkönige den einzigen Zugang zur Stadt bildete. Entlang der Stege, die das jenseitige Ufer säumten, waren Boote festgemacht – die schmalen Kähne jener Fischer, die in den Wassern des Spiegelsees Hechte und Forellen fingen, aber auch die Barken der Kaufleute, die den Fluss Allair befahren und die Gehöfte und Dörfer im Norden mit Waren belieferten.
    Iónador selbst übertraf alles, was Leffel je gesehen hatte. Hohe Mauern aus glattem weißem Stein umrahmten die Stadt, gekrönt von Zinnen und Türmen, auf denen Soldaten mit blitzenden Helmen Wache hielten. Über ihren Köpfen wehten bunte Banner in Blau und Gold, den Farben der Fürstenstadt. Auch das große Tor der Zugbrücke war eindrucksvoll anzusehen: Zwei große, in Stein gehauene Adler bewachten es zu beiden Seiten, als wollten sie unerwünschte Besucher vertreiben.
    Jenseits des Tores und der trutzigen Mauern erblickte Leffel Gilg Häuser aus Stein, soweit seine Blicke reichten.
    Er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die meisten Allagáiner lebten in einfachen Rundhäusern aus Holz und mit Dächern aus Stroh – Magistrat Grindl war weit und breit der Einzige, der sich ein Haus aus Stein leisten konnte. Die Bürger von Iónador jedoch schienen sehr wohlhabend zu sein, denn ihre gesamte Stadt war aus Stein erbaut.
    Zum Berg hin, wo sich der Große Turm wie eine riesige Säule erhob, wurden die Häuser immer größer und prunkvoller, hatten von Säulen getragene Kuppeln und Balkone, von denen sich weite Ausblicke auf Stadt und Umland boten. Den eindrucksvollsten Anblick jedoch bot der Turm selbst.
    Leffel hatte schon viel vom Túrin Mar gehört, um dessen Entstehung sich mindestens ebenso viele Legenden rankten wie um jene der Berge selbst. Manche behaupteten, der Enz Celebar hätte ihn vor undenklich langer Zeit mit bloßen Händen aus dem Fels gehauen (deswegen wurde der Giáthin Bennan im Volksmund auch Enzberg genannt), und dass es Zwerge gewesen wären, die einst die Hallen und Stollen in sein Inneres geschlagen hätten. Trutzig überragte er alle Häuser der Stadt, um in schwindelerregender Höhe mit dem Schildberg zu verschmelzen, der sich wie ein schützendes Dach über Iónador wölbte.
    Auch über den Schildberg gab es viele Erzählungen. Eine davon besagte, dass der Fels, der sich schützend über Iónador breitete, einst die Schwinge eines riesigen Adlers gewesen wäre, der sich mit den Drachen verbündet und gegen den Schöpfer erhoben hätte. Folglich musste er ihr Schicksal teilen, als sie am Anbeginn der Zeit besiegt und niedergeworfen wurden. Er wäre zu Stein erstarrt und fortan gezwungen, die Sterblichen zu beschützen, die er hatte verderben wollen.
    Oft hatte Leffel diese Geschichte gehört – sein Vater hatte sie ihm erzählt, zu Hause am wärmenden Feuer. Dass er diesen Ort jedoch einmal mit eigenen Augen zu sehen bekommen würde, wäre ihm niemals eingefallen, auch wenn er sich noch deutlich an die Worte seiner Mutter erinnerte. »Mein lieber Sohn«, hatte sie stets gesagt, »du bist anders als die Übrigen. Sie werden dich meiden deswegen, aber lass dich nicht beirren. Denn ich glaube fest daran, dass jeder von uns einen Auftrag zu erfüllen hat auf dieser Welt und dass du, mein guter Leffel, zu etwas Besonderem berufen bist…«
    Leffel hatte seiner Mutter nie wirklich geglaubt, aber in diesem Moment, da er auf die Mauern der Stadt Iónador sah, kam er sich vor, als wäre er tatsächlich etwas Besonderes. Ein Gefühl der Erhabenheit hatte sich seiner bemächtigt. Und auch die alten Legenden schienen an diesem Ort wirklicher zu sein als am häuslichen Feuer. Vielleicht, flüsterte eine leise Stimme tief in seinem Inneren, hatte seine Mutter ja tatsächlich recht gehabt…
    Beherzt schulterte er den Rupfensack und marschierte weiter. Er erreichte die steinerne Hauptstraße, die noch aus den Tagen der Bergkönige rührte, und kam im Lauf des Vormittags bei der Brücke an. Bewaffnete Posten standen vor den beiden Türmen, die das diesseitige Ufer säumten. Sie trugen Röcke mit dem blaugoldenen

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