Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
Handgalopp auf den Hof, die Hufe ihrer Stute verspritzten Schlamm. Sie hatte Erian gebeten, vorauszureiten und alle zusammenzutrommeln. Er hatte seine Sache offenbar verdammt gut gemacht, denn auf der Veranda sah sie ihre mit einer Armbrust bewaffnete Tante Murid stehen. Links saß Lark in den Ästen der Kiefer, und rechts hatte Adrian eine Zypresse erklommen. Beide hatten Gewehre und schossen nur selten daneben.
Derril kam mit großen Augen auf sie zugerannt und nahm ihr die Zügel ab.
»Ist Richard hier?«
Ihr Vetter nickte. »In der Bibliothek.«
»Was ist mit Onkel Kaldar?«
Derril nickte abermals.
»Gut.«
Ihre Wut hatte sich während des Ritts in einen Plan umgewandelt. Ein alberner Plan zwar, aber immerhin ein Plan. Jetzt musste sie nur noch ihre Familie davon überzeugen. Bei der letzten Zählung hatte der Mar-Clan, einschließlich der Kinder, siebenundfünfzig Köpfe gezählt. Einige der Ältesten hatten sie schon in Windeln gekannt, und die hörten allesamt auf ihren Vater. Sie dazu zu bringen, stattdessen auf sie zu hören, war eine Sache für sich.
Cerise biss die Zähne zusammen. Wenn sie ihre Eltern wiedersehen wollte, musste sie die Zügel, die ihr Vater fallen gelassen hatte, aufheben und fest in die Hand nehmen, ehe die Familie Zeit fand, nachzudenken und sich mit ihr zu streiten. Sie musste jetzt alle zusammenhalten. Das Leben ihrer Eltern hing davon ab.
Cerise stieg die Stufen hinauf. Mikita folgte ihr auf den Fersen.
Sie blieb vor Tante Murid an der Eingangstür stehen. Murid war fünfzehn Zentimeter größer als sie, hatte dunkle Haare, dunkle Augen und ging mit Worten so sparsam um wie mit Wasser in einer Wüste; sie machte ihren Standpunkt lieber mit der Armbrust klar.
Cerise sah sie an. Bist du auf meiner Seite ?
Murid nickte kaum merklich.
Cerise verkniff sich ein erleichtertes Aufatmen, zog schwungvoll die Tür auf und ging rein.
»Lass dich nicht aufhalten«, flüsterte ihre Tante hinter ihr. »Tu, was du für richtig hältst.«
Die Bibliothek befand sich am Ende der Eingangshalle. Als der mit Ausnahme der Küche größte Raum des Hauses diente sie häufig als Schauplatz von Familienversammlungen. Die Neuigkeit, dass ihre Eltern vermisst wurden, hatte sich inzwischen sicher im Rattennest herumgesprochen. Die Bibliothek würde gut gefüllt sein. Mit Onkeln, Tanten, Vettern und Cousinen. Alle lauschten auf ihre Schritte in der Eingangshalle.
Cerise atmete tief durch und ging schneller, ohne sich darum zu kümmern, dass sie Matsch ins Haus trug.
Sie betrat die Bibliothek und musterte die vertrauten Gesichter: Tante Emma, Tante Petunia, kurz Tante Pete genannt, Onkel Rufus in den Sesseln; links hing Erians schlanker, blonder Körper über einer Stuhllehne; Kaldar, mit wild zerzausten dunklen Haaren, lehnte an der Wand daneben, ein halbes Dutzend andere, und schließlich Richard, der Älteste ihrer Vettern, groß, dunkel, der in der Haltung eines Blaublütigen wartend am Tisch stand.
Alle sahen sie an.
Cerise sprach mit tonloser Stimme. »Die Sheerile-Brüder haben Großvaters Haus.«
Im Raum wurde es still wie in einem Grab.
»Lagar Sheerile hat mir eine von meinem Vater unterschriebene Besitzurkunde für Sene Manor gezeigt.«
»Eine Fälschung«, sagte Tante Pete. »Gustave würde Sene niemals verkaufen.«
Cerise hob eine Hand. »Mein Vater und meine Mutter sind verschwunden. Lagar behauptet, die Hand hätte sie entführt.«
Richard wurde blass.
»Louisianas Spione?« Kaldar, schmal, mit dunklen Haaren wie Richard, löste sich von der Wand. Während Richard eisige Würde ausstrahlte, liebte sein Bruder das Vergnügen. Er besaß wilde, honigfarbene Augen, hatte in einem Ohr einen Silberreif und verfügte über ein Mundwerk, das entweder etwas Komisches von sich gab oder alle Augenblicke breit grinste, manchmal sogar dann, wenn er gerade seine Klinge in den Eingeweiden eines Gegners versenkte. Richard dachte wie ein General, Kaldar wie ein Gauner, und sie brauchte beide an ihrer Seite.
Kaldar beugte sich vor, in seinen Augen funkelte ein hartes, böses Licht. »Was, zum Teufel, kann die Hand von uns wollen?«
»Das hat Lagar nicht gesagt. Aber von nun an ist die Fehde offiziell neu eröffnet. Ich brauche Reiter, die Onkel Peter, Embely und Antoine Bescheid sagen. Wir ziehen alle hier im Rattennest zusammen. Und jemand muss Urow warnen.«
»Darum kümmere ich mich«, sagte Onkel Rufus.
»Danke.« Cerise hätte gerne gewusst, was genau sie sagen sollte, aber jetzt
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