Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
»Zeig unserem hübschen Gast die Urkunde.«
Der jüngste Sheerile-Bruder trottete zu ihrem Pferd und hielt ihr ein in eine Röhre eingerolltes Stück Papier hin. Sie nahm ihm die Röhre ab.
Arig grinste anzüglich. »Wo ist denn deine süße kleine Schwester, Cerise? Vielleicht möchte Lark ja gerne was von dem, was ich habe. Bei mir würde sie es nämlich besser haben, als sie es bis jetzt hatte.«
Schockiertes Schweigen.
Manche Sachen tat man einfach nicht.
Mörderische Glut glitt in Lagars Augen. Peva stieg von der Veranda, ging zu Arig und packte ihn beim Ohr. Arig kreischte.
»Entschuldige uns eine Minute.« Peva wirbelte Arig herum und verpasste ihm einen Tritt in den Hintern.
»Was hab ich denn gemacht?«
Peva trat noch einmal zu. Arig stolperte durch den Schlamm, die gebrechliche Veranda hinauf und ins Haus.
Man hörte Schläge, und Arig schrie: »Nicht in den Bauch!«
Cerise sah Lagar an. »Was lässt du ihn auch wieder ohne Maulkorb frei rumlaufen?«
Lagar zog eine Flunsch. »Sieh dir lieber die verdammte Urkunde an.«
Cerise rollte das Papier auf. Die Unterschrift war perfekt: der energische, eng geführte Schnörkel ihres Vaters. Lagar musste ein Vermögen dafür bezahlt haben. »Das Dokument ist eine Fälschung.«
Lagar grinste. »Wenn du es sagst.«
Sie gab ihm das Papier zurück. »Wo sind meine Eltern, Lagar?«
Er breitete die mageren Arme aus. »Keine Ahnung. Die habe ich seit heute Morgen nicht mehr gesehen. Sie haben uns das Anwesen verkauft und sind bei bester Gesundheit wieder abgezogen.«
»Dann hast du sicher nichts dagegen, wenn wir uns mal im Haus umsehen.«
Er zeigte ihr seine Zähne. »Wenn ich ehrlich bin, habe ich das schon. Was dagegen, meine ich.«
Mit einem einzigen Klicken wurden die Armbrüste und Gewehre entsichert.
Cerise rang um Selbstbeherrschung. Blitzschnell lief ein Film vor ihrem inneren Auge ab: Sie sprang von ihrer Stute, benutzte sie als Deckung gegen die erste Salve, ging dann auf die Veranda los, schlitzte mit einem Hieb ihrer Klinge Arig den Wanst auf, nahm sich Peva vor … Aber bis dahin wären Mikita und Erian längst tot. Sechs Armbrüste gegen drei Reiter – keine Chance.
Lagar sah sie mit seltsam wehmütiger Miene an. Diesen Gesichtsausdruck hatte sie vor zwei Jahren schon mal gesehen, als er sich während des Sommerfestes sinnlos betrunken hatte. Er war übers Feld auf sie zugewankt und hatte sie um einen Tanz gebeten, worauf sie, zum stummen Entsetzen des versammelten Moors, einmal mit ihm ums Freudenfeuer gewalzt war: zwei Erben verfeindeter Familien, die unter den Augen ihrer Eltern mit ihrem Leben spielten.
Nun kam ihr der absurde Gedanke, dass er sie gleich vom Pferd zerren würde. Na, das sollte er ruhig mal versuchen.
»Lagar«, flüsterte sie. »Verarsch mich nicht. Wo sind meine Eltern?«
Lagar kam näher und senkte die Stimme. »Vergiss Gustave. Vergiss Genevieve. Deine Eltern sind nicht mehr da, Cerise. Und du kannst nichts daran ändern.«
Der kalte Knoten in ihrem Bauch platzte und verwandelte sich in Wut. »Sind sie bei dir, Lagar?«
Er schüttelte den Kopf.
Ihr Pferd spürte ihre Besorgnis und tänzelte unter ihr. »Wo sind sie dann?« Wo auch immer die Sheeriles sie versteckt hielten, sie würde sie finden.
Ein dünnes Lächeln kräuselte Lagars Lippen. Er hob eine Hand und studierte sie wie einen äußerst interessanten Gegenstand, sah zu, wie die Finger sich beugten und streckten, und hob den Blick dann wieder zu ihr.
Die Hand. Louisianas Spione.
Cerise lief es eiskalt den Rücken hinunter. Die Hand verhieß den Tod. Jeder hatte Geschichten darüber gehört. Manche ihrer Agenten hatte die Magie so verdreht, dass sie nicht mal mehr menschlich waren. Was konnten Louisianas Spione von ihren Eltern wollen?
Lagar hob die Stimme. »Ich schicke eine Kopie der Urkunde zu dir nach Hause.«
Sie lächelte ihn an und hätte ihn am liebsten mit ihrem Schwert einen Kopf kürzer gemacht. »Ja, mach das.«
Lagar verbeugte sich geziert.
»Das war’s dann«, sagte sie. »Ab jetzt gibt’s kein Halten mehr.«
Er nickte. »Ich weiß. Unsere Urgroßeltern haben die Fehde angefangen, und wir werden sie zu Ende bringen. Ich kann es kaum erwarten.«
Cerise wendete ihr Pferd und gab ihm die Sporen. Mikita und Erian ritten hinter ihr durch den Regen.
Ihre Eltern lebten. Und sie würde sie zurückbekommen. Sie würde sie finden. Und wenn sie ihren Weg mit den Leichen der Sheeriles pflastern musste, umso besser.
Cerise sprengte im
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