Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
erlahmenden Fingern strich William ihr durchs Haar. Sein Körper erschauerte. Dann verdrehte er die Augen.
»Du kannst mich nicht einfach alleinlassen!«
Sein Herzschlag flatterte ein letztes Mal und verging wie eine ausgeblasene Kerze.
Die Welt kam kreischend zum Stehen, und Cerise schlitterte einsam und allein hindurch. Ein schrecklicher Schmerz zerriss sie und zermalmte mit seiner Stahlfaust ihr Herz. Es gab nicht genug Luft für ihre Lungen.
Ich liebe dich. Verlass mich nicht. Bitte, bitte, verlass mich nicht .
Hinter ihr ließ sich Richards leise Stimme vernehmen. »Er ist fort, Cerise.«
Nein. Noch nicht . Sie mühte sich, ihn aufzurichten. Hände griffen nach ihren Schultern. »Er ist tot, Cerise«, flüsterte Ignata. »Lass ihn.«
»Nein!«
Cerise stemmte sich hoch, zog den Körper mit. Richard packte sie. »Cerise, lass los …«
»Nein! Lass mich!«
»Wohin bringst du ihn?«
Verzweifelt riss sie sich los. Sie überlegte nicht, ihr Kopf war voll von Gedankensplittern und Schmerz, und sie musste sich mächtig anstrengen, um die zwei Worte auszuspeien: »Zur Kiste!«
»Das ist Wahnsinn.« Ignata stellte sich vor sie.
»Die Kiste wird ihn gesund machen. Geh mir aus dem Weg!«
»Selbst wenn sie ihn wiederbelebt, kommt er verrückt wieder raus. Er hat nicht den Schutz, den du hast. Er hat das Heilmittel nicht!«
»Ich geh mit ihm rein.«
»Wozu?«
»Das Beerdigungskraut in der Kiste, es wird meine Säfte mit seinen vermischen. Was immer das Heilmittel bewirkt hat, ist noch in mir.«
Ignata warf die Hände hoch. »Was, wenn ihr beide sterbt? Oder wenn er irrsinnig rauskommt? Richard … sag was!«
Richard stand lange wie versteinert da, schien zwischen ihnen gefangen, dann bückte er sich und nahm Williams Beine. »Sie hat sich’s verdient, dass einmal was gut ausgeht.«
Cerise ergriff Williams Schulter, und gemeinsam kämpften sie sich mit dem Körper den Hügel hinab. »Hilf mir! Bitte, hilf mir!«
Ignata biss sich auf die Lippe, dann sauste sie zu ihrer unten wartenden Familie. »Zieht die Kiste ans Ufer!«
Als William erwachte, war die Welt rot und tat weh. Sehr weh. Er geriet in Panik und schlug um sich, weil er sich aus dem roten Nebel befreien wollte. Doch dann schlossen sich die Arme einer Frau um ihn. Er hörte nichts, und er sah nichts, doch als sie sein Gesicht berührte, wusste er, dass es Cerise war und dass sie weinte. Er zog sie an sich, versuchte, ihr zu sagen, dass alles gut war und dass sie hier rauskommen würden, doch der Schmerz schlug über ihm zusammen, und er versank darin.
Blutgeruch tränkte das Schlachtfeld. Als Ruh an dem Hügel entlang zum schwarzen Teich ging, las er von dem aufgewühlten Morast ab, wie wild der Kampf getobt hatte. Rote Pfützen in Fußspuren, Hundefährten, die Leichen erschlagener Prügelknaben vereinigten sich zu einem lebhaften, zusammenhängenden Bild einer Karte, die er las und von der er sich leiten ließ. Hier war Karmash gefallen, niedergerungen von Leichen, die nun leblos dalagen, kaum mehr als Haufen aus Knochen und verfaultem Gewebe. Die weißhaarige Bestie war davongekommen. Irgendwie kam sie immer davon. Ruh rümpfte die Nase über dem aufsteigenden Gestank von verwesendem Fleisch. Das Torfmoor hatte die Leichen der Thoas konserviert, doch nun, an der frischen Luft, zerfielen sie umso schneller.
Er trat über Veisans Leiche. Ihre Fußspuren erzählten ihre Geschichte: brutales Ringen, blitzschnelle Attacken, dann ein einziger verheerender Vorstoß. Nun hatte Veisan ihren Frieden.
Der Feind war verschwunden. Die Seile hingen verwaist in der Zypresse. Die anderen hatten Spiders Schatz mitgenommen. Egal. Er würde sie schon finden. Niemand entkam Ruh.
Ruh kam zum Ufer und hockte sich in den Schlamm, dabei achtete er darauf, nicht auf die kleinen, stacheligen Kugeln der Magiebomben zu treten, die im Morast verteilt waren. Es waren nicht seine, ebenso wenig gehörten sie einem von Spiders Leuten. In einem Sekretstrom wisperten Tentakel von seiner Schulter. Die Magie leckte an den Bomben. Sie schmeckten fremd. Sie schmeckten nach dem Spiegel.
Er starrte auf die Spuren im Schlamm. Interessant. Jemand hatte dort einen Körper entkleidet. Die Klamotten lagen auf einem durchweichten Stapel. Als man die Leiche ausgezogen hatte, mussten die Bomben aus den Taschen gefallen sein. Der Feind schreckte also nicht vor Leichenfledderei zurück. Nicht mal bei Toten des Spiegels.
Er glitt näher an den schwarzen Teich heran und tauchte seine
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