Land der Schatten: Schicksalsrad (German Edition)
über ihre Eltern. Trotz des Plaudertons vernahm er die unterschwellige Spannung in ihrer Stimme.
Kaldar stellte die beiden Eimer Wasser ab, die er vom Bach hergetragen hatte, und hob eine Hand. Hinter ihm blieb Gaston stehen und brummte: »Was?«
»Psst. Ich will das hören.«
Gaston zuckte die Achseln, stellte seine Eimer ins Gras und ließ sich neben dem Flugdrachen nieder, das lange, dunkle Haar fiel ihm über den Rücken.
Kaldar lehnte sich gegen die schuppige Flanke des Drachen. Der Junge hatte Talent. Es musste ganz schön schwer gewesen sein, Audrey zum Reden zu bewegen. Sie war klug und passte gut auf sich auf.
Womöglich hatte ihre Reaktion auf die Magie der Hand dabei eine Rolle gespielt. Die Agenten der Hand waren dermaßen durchgeknallt, dass sie ihre Magie förmlich ausdünsteten. In magischer Hinsicht stanken sie wie überfahrene Tiere, die schon ein paar Tage in der Sonne moderten, und den meisten Menschen wurde schlecht, wenn sie ihnen zum ersten Mal zu nahe kamen. Die Reaktion hielt je nach Intensität und Art der Magie sowie der Empfänglichkeit des Opfers einige Stunden vor. Manche spürten unsichtbares Ungeziefer auf der Haut, andere gerieten in Panik, wieder andere bekamen Krampfanfälle. Audrey gehörte zu dem Typ, der von dem Gefühl, in Brand gesetzt worden zu sein, berichtet und sich dabei wie aufgespießt oder angefressen vorkommt. Einhergehend mit verminderten Hemmungen. Audreys innere Bremsen versagten. Sie verlor die Kontrolle auf der Gefühlsautobahn, und das wollte sich Kaldar auf keinen Fall entgehen lassen. Er kam um vor Neugier. Er wollte wissen, was ihr gefiel und was nicht und was sie glücklich machte. Er wollte wissen, warum sie so ganz allein im Edge lebte.
Je mehr er über sie wusste, desto leichter würde er sie beeindrucken können. Und je mehr er sie beeindruckte, desto besser würde sie ihn leiden können. Er wollte unbedingt, dass Audrey ihn mochte. In ihrer Nähe fühlte er sich wie von der Sonne beschienen.
Audreys Stimme stockte und sie räusperte sich.
»Meine Eltern haben das Internet nie verstanden. Sie haben nicht kapiert, dass man nicht einfach die Geldkartenforen anklicken und diese Nummern kaufen konnte. Man brauchte dazu eine Einladung oder musste von irgendjemandem ein Passwort bekommen.
Mein Vater trieb einen Typen namens Colin auf. Ein echter Drecksack. Colin war die große Nummer in einem dieser Foren, also forderte Dad Alex auf, sich mit ihm anzufreunden, um an ein Passwort heranzukommen. Er sagte ihm, er solle alles dafür Erforderliche tun. Besorge das Passwort, Alex. Hauptsache, du kommst an das Passwort.«
Sie klang verbittert, und so fühlte sie sich auch, verbittert und wütend. »Colin war auf Koks, und man kam nur an ihn heran, wenn man ihm Drogen beschaffte. Also besorgte Alex ihm Kokain, und Colin wollte, dass er blieb und sich mit ihm bediente. Das tat Alex dann zwei volle Monate lang. Bis Colin schließlich eine Überdosis erwischte und draufging. Er nahm einfach zu viele Drogen, also brachten sie ihn um. Aber wir hatten das Passwort zu dem Forum, und mein Vater kaufte dort eine Handvoll Nummern. Unsere ganzen Reserven gingen dafür drauf. Als er sich dann den fünften Geldautomaten vornahm, fiel einem Polizisten, der nicht mal im Dienst war, auf, dass er den Automaten mit einer Geldkarte nach der anderen fütterte, und nahm meinen Vater fest. Es gab einen Riesenaufstand. Als mein Dad drei Monate später wegen eines Formfehlers freikam, steckten er und meine Mutter Alex in eine Entzugsanstalt, aber da war es schon zu spät. Er steht … stand drauf, süchtig zu sein. Das fiel ihm leichter, als immer nur als Vaters Laufbursche zu dienen, und Dad konnte er ein schlechtes Gewissen machen, weil er ständig Drogen für ihn besorgen musste. Er hat nie wieder damit aufgehört. Von da an haben wir nur noch gearbeitet, um genug Geld für den nächsten Entzug zusammenzubekommen.«
Audrey hielt inne. Sie wollte sich nicht anhören, als würde sie in Selbstmitleid zerfließen, konnte aber nichts dagegen unternehmen. »Manchmal ging ich zur Schule, meistens aber nicht. Ich hatte keine Freunde, nie konnte ich tun, was andere, normale zwölfjährige Mädchen so machen. Ich nehme an, ich habe damals immer noch gehofft, dass mein Bruder zu uns zurückkommen würde. Aber dann, ich war fast 17, verkaufte mich Alex an einen Drogenhändler. Er wollte irgendwelche Rezepte, hatte aber kein Geld, also sagte er dem Kerl, er könnte mit mir anstellen, was er
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