Land der Schatten: Schicksalsrad (German Edition)
Vogel.
»Meine Kindheit war nicht mal annähernd so übel wie deine, deshalb hört es sich vielleicht so an, als wollte ich in Selbstmitleid zerfließen, und genauso ist es auch. Dir kommen meine Probleme bestimmt unbedeutend vor, mich überrollen sie allerdings fast. Schon komisch, wie das jedes Mal läuft. Wenn man jemand fragt, wie viel ein Dollar wert ist, wird man zu hören bekommen: fast nichts. Wenn man jemandem aber einen Dollar wegnehmen will, kriegt man mit Sicherheit was aufs Maul.« Sie lächelte.
»Sie haben recht, so große Probleme wie ich hat noch keiner gehabt«, sagte George. »Nein, im Ernst, ich hab’s echt schwer. Ich bin reich, begabt, und die Mädchen heulen sich wegen mir die Augen aus dem Kopf.«
»Und wie genau kriegst du das hin?«
George wandte sich ihr zu. Seine blauen Augen wurden größer. Sein hübsches Gesicht nahm einen verlassenen, zutiefst bekümmerten Ausdruck an. Dann beugte er sich vor und flüsterte theatralisch: »Ich hatte eine tragische Vergangenheit. Aber ich will niemandem damit zur Last fallen. Dieses Leid muss ich alleine ertragen. Immer wenn es regnet. Und stumm.«
Sie lachte. »Das war echt klasse.«
George zuckte die Achseln und wurde wieder er selbst. »Manchmal funktioniert’s. Aber ich würde trotzdem gerne von Ihren Eltern hören. Bitte.«
Oh, okay, wieso nicht ? »Meine Eltern waren Ganoven. Ich glaube nicht, dass einer der beiden im ganzen Leben einen einzigen Dollar mit ehrlicher Arbeit verdient hat. Dafür gab es jeden Tag einen neuen Schwindel oder Diebstahl. Manchmal besaßen wir tonnenweise Geld. Dann brachte uns Dad in einem Luxushotel unter, wir aßen Steaks oder Hummer, und für Mutter kaufte er Schmuck. Und die Woche drauf schliefen wir in einem liegen gebliebenen Auto. Ein chaotisches Leben, aber es hat Spaß gemacht.
Mein Bruder war acht Jahre älter als ich. Er sah gut aus und war superlustig, und ich dachte, er könne einfach alles. Die Mädchen haben sich wegen ihm gegenseitig die Augen ausgekratzt.« In ihren Augen brannten Tränen, doch sie blinzelte sie fort. »Alex konnte über kurze Entfernungen teleportieren. Das war seine besondere Gabe. Außerdem war er ein echt begnadeter Dieb. An Tankstellen hat er für mich immer Eis am Stil geklaut. Ich fand ihn unglaublich cool.
Wir haben viel gearbeitet, mein Bruder und ich, haben Sachen gestohlen, die unsere Eltern dann verkauft haben. Aber als Alex zwanzig wurde, ging alles den Bach runter. Da fing er mit den Drogen an. Und unser eigener Vater trug die Schuld daran. Dad war immer auf den ganz großen Coup aus. Jeder neue Betrug sollte uns, genau wie der davor, ein sorgenfreies Leben bescheren.« Audrey hielt inne, dann fragte sie: »Weißt du, was das Internet ist?«
George nickte.
»Die Menschen im Broken verwenden manchmal Geldkarten statt Bargeld. Kleine Plastikkarten mit einem Magnetstreifen. Wenn man die Karte durch ein Lesegerät zieht, wird der Kaufpreis der Ware, die man gerade erworben hat, von deinem Bankkonto abgebucht. Kriminelle stehlen die Kartennummer und den Code, den man braucht, um an das Geld ranzukommen. Dazu muss man ein bisschen was von Technik verstehen. Die Kartennummern werden dann in geheimen Internetforen verkauft. Man kann sie für zehn, zwanzig Dollar pro Stück erwerben und damit eigene Geldkarten fälschen. Mit so einer Karte geht man zu einem Geldautomaten – weißt du, was das ist?«
George nickte abermals. »Bankautomaten, an denen man Geld ziehen kann. Sehr schwere Dinger.«
»Genau.« Audrey nickte. »Ich wollte mal so einen Automaten stehlen, aber der muss aus Blei gewesen sein, denn wir wollten ihn mit einer Seilwinde auf einen Lastwagen heben, aber die Winde ist glatt gebrochen. Aber egal, wenn man über Karten mit falschen Geldkartennummern verfügt, kann man damit zu den Geldautomaten gehen und Geld von fremden Bankkonten abheben. Zuerst räumt man einen Automaten aus, dann den nächsten, manchmal tagelang, bis die Bank dahinterkommt. So kann man ein Heidengeld machen. Mein Vater stand total auf diese Masche. In seiner Vorstellung konnte man so lächerlich leicht zu Geld kommen. Banken versichern die Einlagen ihrer Kunden, weißt du, wenn ihre Konten also geplündert werden, kommt die Versicherung dafür auf. Mein Vater glaubte deshalb an ein Verbrechen ohne Opfer. Oh, wenn wir da einsteigen könnten, würden wir nie wieder Geldsorgen haben.«
Kaldar blieb hinter dem Flugdrachen stehen. Audreys Stimme drang an sein Ohr. Sie sprach gerade
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