Land der Sehnsucht (German Edition)
den Kopf zur Seite. Ein Lächeln zog langsam die Seiten seiner gegerbten Wangen nach oben. „Also, wenn das nicht …“, murmelte er so leise, dass sie ihn kaum hören konnte. Ein Funkeln trat in seine Augen. „Bonjour, Madam-moselle.“
Völlig überrascht schmunzelte Véronique über die unerwartete Antwort und den starken Akzent, mit dem er die Worte aussprach. Dass er ihre Sprache verstand, machte ihr Mut. Vielleicht würde es besser laufen, als sie erwartet hatte. „Bonjour, Monsieur Sampson.“ Sie deutete auf sich. „Je m’appelle Mademoiselle Véronique Eveline Girard.“
„Jim-a-pel Jake Sampson“, antwortete er und richtete stolz seinen Brustkorb auf.
Seine furchtbare Aussprache war liebenswert und entlockte ihr ein Lächeln. „Enchantée de faire votre connaissance, monsieur. Je cherche un chauffeur et une voiture pour me porter au …“
„Langsam, Missy, nicht so schnell.“ Sampson hob eine Hand. „Ich habe verstanden, dass Sie sich freuen, mich kennenzulernen, und dass Sie etwas von einem Wagen gesagt haben, aber ich fürchte, so gut ist mein Französisch auch wieder nicht.“ Er beugte sich vor. „Können Sie verstehen, was ich sage?“ Seine Stimme wurde lauter.
Sie schmunzelte wieder. „Ja, Monsieur Sampson. Ich verstehe jedes Wort, das Sie sagen.“
„Puh! Das ist gut, denn ich verstehe nur eine Handvoll Ihrer Wörter, und die sind ziemlich eingerostet.“
„Wann hatten Sie Gelegenheit, meine Sprache zu lernen, Monsieur Sampson?“
„Lassen Sie mich nachdenken …“ Er kaute auf seiner Unterlippe, und der graue Bart an seinem Kinn wippte hin und her. „Das müsste jetzt ungefähr zwanzig Jahre her sein. Damals kamen viele französische Pelzjäger hier durch.“
Seine Antwort löste bei Véronique eine unerwartete Reaktion aus. Sie hatte Mühe, ihre Hoffnungen zu zügeln. „Französische Pelzjäger …“
Er nickte.
„Kannten Sie zufällig einige dieser Männer?“
„Natürlich, ich kannte viele von ihnen. Sie kamen in Scharen durch die Stadt.“ Er trat zur Werkbank auf der anderen Seite und nahm eine Zange, bevor er zu seiner Feuerstelle zurückkehrte. „Sie brachten immer viel Arbeit mit und erzählten Geschichten, wie man sie noch nie gehört hatte. Man konnte aber nur ein paar Worte verstehen.“ Seine buschigen Augenbrauen zogen sich nach oben. „In Ihrem Fall würde das natürlich nicht stimmen. Nicht wahr, Madam?“
Sein Lachen klang herzlich und echt, und sie fühlte sich dadurch nicht beleidigt. Irgendwie machte seine Ungezwungenheit es ihr leichter, ihre nächste Frage auszusprechen. „Ich weiß, dass es viele Jahre zurückliegt, aber erinnern Sie sich vielleicht an den Namen einiger dieser Männer? Vielleicht an einen Mann namens Pierre Gustave Girard?“
„Girard“, wiederholte er und schaute sie genauer an.
„Er müsste im Herbst 1850 in Willow Springs gewesen sein. Vielleicht auch schon früher.“
„50 sagen Sie?“ Er pfiff leise. „Das ist so lange her …“
Die Wehmut, die über sein Gesicht zog, gab ihr das Gefühl, die zwanzig Jahre wären eine Kluft, die sie unmöglich überbrücken konnte.
„Nein, Madam, leider klingelt beim Namen Girard nichts bei mir. Aber der Vorname kommt mir bekannt vor“, antwortete er mit fröhlicher Stimme.
„Oui, das kann ich verstehen.“ Sie bemühte sich ebenfalls um einen fröhlichen Tonfall, aber ihre Enttäuschung war zu groß. Hatte sie erwartet, dass sie aus der Postkutsche steigen und nach so vielen Jahren sofort ihren Vater finden würde? Nein, aber sie hatte auch nicht damit gerechnet, dass dieses Land so groß wäre, dass es sich so viele Kilometer weit von Ost nach West erstreckte. Die Größe der Aufgabe, die vor ihr lag, hatte mit jedem Kilometer, den sie mit dem Zug oder der Postkutsche zurückgelegt hatte, zugenommen, und sie fühlte sich im Vergleich dazu klein und unzulänglich.
Der einzige Hinweis, den sie auf den Aufenthaltsort ihres Vaters hatte, war ein Brief und diese winzige Stadt in einem abgelegenen Teil der Welt, den sie am liebsten nie kennengelernt hätte.
Im Moment wollte sie nichts lieber als wieder in Paris sein und an Christophes Arm über die Champs-Elysées flanieren, an ihrer Brücke über die Seine vorbeigehen oder das Grab ihrer Mutter auf dem Cimetière de Montmartre besuchen.
Doch von der anderen Seite des Ozeans, von der anderen Seite der Welt her forderte eine vertraute Stimme sie auf: „Ich will, dass du das tust, was ich nie konnte.“
Véronique
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