Land der Sehnsucht (German Edition)
…“
Eine Tür auf der Rückseite des Hauses wurde zugeschlagen und ein Junge kam mit halsbrecherischer Geschwindigkeit um die Ecke gerast.
„Nicht so schnell, Bobby!“ Patrick beugte sich vor und packte seinen Sohn scherzhaft am Kragen. Obwohl sich der Junge unter seinem Griff wand, gelang es dem Pfarrer mit Leichtigkeit, einen Arm um den Brustkorb seines Sohnes zu legen und ihn an sich heranzuziehen. Bobby kicherte, als sein Vater ihn kitzelte und ihm die Haare zerzauste.
Jack beobachtete die Szene zwischen Vater und Sohn, und tief in seinem Inneren setzte ein Pochen ein, gegen das er machtlos war. Es wurde immer lauter, und er wandte den Blick ab, als ein Gedanke mit Macht an die Oberfläche kam. Aaron würde in diesem Jahr sechzehn werden, wenn er noch am Leben wäre.
Im nächsten Moment zogen vor seinem geistigen Auge Bilder von Dingen vorüber, die er nie mit seinem Sohn gemacht hatte: Aaron das Angeln lehren, ihn zu seinem ersten Jagdausflug mitnehmen, ihm zeigen, wie man Knoten bindet, ihm beibringen, wie man mit Hilfe des Nachthimmels das Wetter für den nächsten Morgen vorhersagen kann. Jacks Kehle schnürte sich unangenehm zusammen und er schluckte schwer. Wenn eine Verletzung geheilt war, bedeutete das nicht, dass man nicht von Zeit zu Zeit um den Verlust trauerte – das war eine weitere Lektion, die er irgendwann in seinem Leben gelernt hatte.
Als er die Begeisterung des Jungen hörte, wurde Jacks Aufmerksamkeit wieder auf die Carlsons gelenkt und es entlockte ihm ein Lächeln.
„Bobby, das ist Mr Brennan.“ Patrick sah Jack über den Tisch hinweg an. „Und das ist Bobby, unser Jüngster. Bobby, Mr Brennan ist ein echter Treckführer.“
Der Junge schaute ihn mit großen Augen an. „Im Ernst?“
„Im Ernst“, wiederholte Jack und schätzte Bobby auf ungefähr sieben oder acht Jahre.
„Da bist du ja!“ Hannah erschien an der Tür und stemmte die Hände in die Hüften. „Du bist so schnell gelaufen, dass ich nicht mithalten konnte.“
Bobby rannte auf Jacks Seite des Tisches herum, so als höre er seine Mutter gar nicht. „Erzählen Sie mir ein paar Geschichten, Mr Brennan? Haben Sie schon einmal jemanden erschossen?“
Hannah stupste ihren Sohn leicht am Kinn, als sie an ihm vorbeiging. „Du sollst Mr Brennan nicht mit deinen Fragen löchern, Bobby. Er ist unser Gast.“ Sie warf Jack einen warnenden Blick zu. „Bobby liebt Geschichten über das Leben auf einem Treck. Ich hoffe, das stört Sie nicht.“
„Nicht im Geringsten, Madam.“ Jack stützte die Unterarme auf seine Knie, damit er auf Augenhöhe mit dem Jungen war. „Außerdem hat man doch nichts davon, wenn man ein neugeborenes Kalb aus den Klauen eines Berglöwen rettet und es niemandem erzählen kann, nicht wahr?“
Bobbys Kinnlade fiel nach unten.
Patrick stand vom Tisch auf. „Das war’s! Jetzt müssen Sie nicht nur zum Mittagessen bleiben, Jack. Jetzt müssen Sie bei uns einziehen!“
Kapitel 4
Véronique blieb an der Straßenecke stehen und warf wieder einen Blick auf den Zettel in ihrer Hand. Lilly Carlsons Wegbeschreibung zum Mietstall, die sie in erstaunlich gleichmäßigen Blockbuchstaben geschrieben hatte, führte sie in diese Straße. Aber die Straße hatte kein Straßenschild, das ihren Namen verraten hätte. Zugegeben, Willow Springs war keine große Stadt, aber wie sollten Leute, die neu hier waren, sich ohne Straßenschilder zurechtfinden?
Nach dem Abschied von Monsieur Colby hatte sie ohne große Mühe die Bank gefunden und zu ihrer Erleichterung erfahren, dass Monsieur Marchand bereits eine erhebliche Summe für sie eingezahlt hatte. Ihr stand nun reichlich Geld zur Verfügung, um eine Kutsche und einen Fahrer zu mieten und ihren Fahrer zu bezahlen, bis die nächste Überweisung eintraf.
Véronique blickte wieder auf und schnaubte leise, weil es keine richtigen Schilder gab. Sie merkte sich Lillys Beschreibung und steckte dann den Zettel in ihr Täschchen. Warum hielten die Menschen in dieser verwirrenden Stadt nichts davon, ihren Straßen Namen zu geben?
Mit der einen Hand hielt sie ihren Schirm und mit der anderen zupfte sie an ihrem hoch geschlossenen Spitzenkragen. Sie hätte schwören können, dass die Sonnenstrahlen hier stärker brannten als im Osten des Landes. Die Aprilsonne schien schon warm vom Himmel und vertrieb die Kühle des Morgens. Ohne die unverhohlen neugierigen Blicke der Stadtbewohner zu beachten, zwang sie sich zu einem selbstsicheren Gang und bog in die Straße
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