Land der Sehnsucht (German Edition)
fehlte. Gott hatte ihr diese Gabe zu malen vielleicht mit der Absicht gegeben, dieses Bedürfnis zu stillen.
Aber seit dem Tod ihrer Mutter waren alle Versuche, die klaffende Lücke mit dem Malen zu schließen, schmerzlich fehlgeschlagen.
Die Leere in ihrem Herzen erinnerte sie immer wieder an die letzte Bitte ihrer Mutter. „Ich will, dass du das tust, was ich nie konnte, Véronique. Fahre zu ihm …“ Véronique hätte sich am liebsten umgedreht und wäre davongelaufen, aber die Dringlichkeit ihrer Mutter hatte sie veranlasst, neben ihrem Bett stehen zu bleiben. „Finde ihn … ich weiß, dass dein Vater noch am Leben ist.“ Tränen traten ihrer Mutter in die Augen. „Tu es für ihn. Und für dich selbst … Dein Papa ist ein guter Mann.“
Der Blick ihrer Mutter war zum Tisch neben dem Bett gewandert und an einem Stoß von Briefen hängen geblieben. Die früher einmal weißen Umschläge waren mit der Zeit gelb geworden und wiesen deutliche Spuren auf, dass sie oft gelesen worden waren. Das Bündel war fest zusammengebunden. Zu fest, wie es Véronique erschien, und mit einer Schleife, die Véronique bisher nicht gesehen hatte. „Das sind jetzt nicht mehr meine Briefe, Véronique. Sie gehören dir.“ Eine Träne war über die linke Schläfe ihrer Mutter gelaufen und in ihrem Haaransatz verschwunden. „Eigentlich haben sie immer dir gehört. Nimm sie. Lies sie, ma Chérie.“
Sie hatte ihrer Mutter damals ihren Wunsch nicht abschlagen können, aber Véronique wollte die Briefe nicht. Sie brauchte sie nicht noch einmal zu lesen. Sie kannte bereits die Versprechen ihres Vaters, seine junge Frau und seine fünfjährige Tochter nachkommen zu lassen, sobald er sich in Amerika eine Existenz aufgebaut hatte. Sobald er als Pelzjäger genug Geld verdient hatte.
Aber Pierre Gustave Girard hatte sie nie nachkommen lassen.
Christophe erhob sich in diesem Moment aus seiner stillen Andacht und bot ihr seinen Arm an. Véronique stand ebenfalls auf, schob ihre Hand unter seinen Arm und wollte die tonlose Frage, die ihr nie ganz aus dem Kopf gehen wollte, ein für alle Mal zum Schweigen bringen.
Paris war ihr Zuhause. Wie hatte ihre Mutter von ihr verlangen können, es zu verlassen, um sich auf die Suche nach jemandem zu begeben, der sie beide im Stich gelassen hatte?
Christophe ging langsam über das Kopfsteinpflaster und passte seine langen Schritte ihren kleineren Schritten an.
Der schattige Baldachin, unter dem sie dank der dicht belaubten Bäume dahingingen, lockte die Grillen noch lange, nachdem sie sonst in der Sommerwärme verstummten, zu zirpen. Moosflechten bedeckten die Gräber und überzogen die Steine mit graugrünen Schleiern. Eisentore vor kleinen Mausoleen verwehrten Besuchern, die keinen Schlüssel hatten, den Zutritt. Die Schlösser und Ketten, die an ihren Türen angebracht waren, hingen unter ihrem eigenen Gewicht schwer nach unten.
„Wie kann die Zeit einerseits so langsam vergehen, Christophe, wenn sie andererseits so knapp bemessen zu sein scheint?“ Ihre Frage entlockte ihm, wie sie erwartet hatte, ein Lächeln.
„Du bist immer eine Dichterin und betrachtest das Leben mit den Augen eines Künstlers.“ Er schaute zu ihr hinab. „Das ist etwas, das ich immer zu verstehen angestrebt habe, aber ich bin dabei kläglich gescheitert.“
„Und du willst deinen Realismus aufgeben? Deine Fähigkeit …“ Sie zog in dem Versuch, seine tiefe Stimme nachzuahmen, das Kinn ein. „… die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, nicht so, wie andere sie sehen?“
Christophe schüttelte lächelnd den Kopf. „Ach, was für ein gutes Gedächtnis du doch hast, ma Petite. Du beherrschst es perfekt, sowohl Formulierungen als auch Bilder mit einer unvergleichlichen Klarheit einzufangen und festzuhalten. Du vergisst nie etwas.“
„Das stimmt nicht, und das weißt du auch. Meine Gedanken sind in letzter Zeit oft zerstreut, und ich vergesse vieles.“
„Ja, du vergisst zu essen, wenn du bis spät in die Nacht malst.“ Sein Blick wurde tadelnd. „Beziehungsweise, als du gemalt hast. Du vergisst, die Flamme auszulöschen, wenn du beim Lesen einschläfst.“ Er schnippte mit den Fingern. „Wenn du diesen ausländischen Dichter liest, den du so magst.“
Sie schlug ihm schmunzelnd auf den Arm. „Du weißt ganz genau, wie er heißt.“
„Oui, ich kenne den Meister John Donne. Aber warum muss er ausgerechnet ein Engländer sein?“
Sie kicherte darüber, wie er dieses Wort aussprach. Als wäre es
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