Land der Sehnsucht (German Edition)
selbstverständlich für sie gewesen war und der ihr jetzt weit weg und beunruhigend fremd erschien.
Sie musste an Jack denken, und bei jedem schmerzlichen Strich, den sie zu Papier brachte, fragte sie sich, was er denken würde, wenn er ihre Bilder und Zeichnungen sähe. Läge in seiner Miene Höflichkeit, gepaart mit einem gewissen Unbehagen, weil er nicht wusste, was er sagen sollte?
Wenn sie nur das Talent von Berthe Morisot und den anderen besäße! Dann hätte Jack vielleicht eine höhere Meinung von ihr. Er hatte nicht angedeutet, dass er im Moment eine schlechte Meinung von ihr hatte, aber wenn sie so viel Talent besäße, würde er sie vielleicht für fähiger und lobenswerter halten.
Véronique nahm den Zeichenstift von ihrem Pergament. Dann betrachtete sie ihre Arbeit und fand nicht viel Wert darin. Die Hände des Bettlers waren unbeholfene und gezwungene Linien, ihnen fehlte jede Bewegung und jedes Leben. Sie zerknüllte das Blatt und warf es neben ihrem letzten misslungenen Versuch in die Ecke.
Plötzlich erschien es ihr als große Beleidigung, dass Gott jemandem ein Talent gab, nur um es ihm aus einer Laune heraus wieder wegzunehmen. Es wäre besser, wenn er sie überhaupt nie begabt hätte, als sie jetzt mit leeren Händen dastehen zu lassen und mit der Sehnsucht nach dem Entzücken, das sie früher erlebt hatte, als die Kunst durch ihre Hände und durch ihren Körper geflossen war, als käme sie direkt aus ihrem Herzen.
Wäre sie je so begabt, dass sie Farben genauso gut wie Berthe auf eine Leinwand brächte? Die Chancen, dass so etwas in der winzigen Stadt Willow Springs passieren würde, waren gleich null. Studenten brauchten Anweisung, um besser zu werden. Wer an diesem Ort besaß die nötigen Fähigkeiten, um sie zu unterrichten und sie herauszufordern, ihr Wissen im Bereich der Kunst zu erweitern?
Während sie die zerknüllten Papierkugeln in der Ecke anstarrte, erinnerte sie sich an Pfarrer Carlsons letzte Predigt. Noch nie zuvor hatte sie Gott für grausam gehalten, nicht einmal, als ihre Mutter viel zu früh gestorben war. Der Tod war ein Teil des Lebens. Das Ende des Lebens, aber trotzdem gehörte er zur Natur der Dinge. Das wusste sie, denn schon in jungem Alter war sie zwischen den stummen Zeugen des Todes, den Grabsteinen auf dem Cimetière de Montmartre herumgelaufen.
Aber der Entzug ihrer Fähigkeit, zu malen und zu zeichnen, war für sie so, als würde Gott ihr seine Gegenwart entziehen. Und angesichts von allem anderen, was ihr – mit Gottes Einverständnis – in ihrem Leben weggenommen worden war, empfand sie diesen Entzug als besonders grausam.
* * *
„Très bien, Mademoiselle Carlson!“ Véronique erhob sich klatschend von ihrem Stuhl und legte eine Begeisterung in ihre Stimme, die nicht im Erfolg des Mädchens begründet lag, sondern in ihrer Anstrengung und ihrer Hingabe.
Lilly richtete sich von ihrem versuchten Knicks auf. Der Schweiß der anstrengenden Übungsstunde stand auf ihrer Stirn. Das Restaurant des Hotels war leer, da die Essenszeit längst vorüber war. „Sie sind sehr freundlich, Mademoiselle Girard … und sehr großzügig mit Ihrem Lob. Ich mache das nicht gut. Aber ich kann es besser. Das weiß ich.“
Wie Véronique befürchtet hatte, behinderte die Schiene an Lillys rechtem Bein ihre Verbeugung sehr stark, und nicht einmal das Leuchten in Lillys Augen konnte ihre Schmerzen, die diese Bewegung ihr verursachten, verbergen. Véronique war nicht sicher, ob das von der Überanstrengung des Mädchens an diesem langen Arbeitstag herrührte oder ob es an den wiederholten Versuchen, den Knicks korrekt auszuführen, lag.
Sie wollte dem Ganzen gern ein Ende setzen. „Du überraschst mich mit deinem Lerneifer und deiner Hingabe immer wieder, ma Chérie. Aber ich glaube, für einen Abend haben wir mehr als genug geübt. Du musst dich jetzt ausruhen.“
Lilly holte tief Luft. Ihr schmales Kinn wurde hart. „Nein, Madam! Ich werde so lange üben, bis ich es richtig kann!“
Die entschiedene Stimme des Mädchens ließ Véronique eine Braue in die Höhe ziehen. Doch sie wusste genau, dass dieser Tonfall nicht ihr galt. Sie erkannte die Frustration hinter Lillys Äußerung. Hatte sie nicht vor einigen Stunden mit ihrem Stift und Pergament, die ihr als starke Gegner das Leben schwer gemacht hatten, einen ähnlichen Ansturm von Gefühlen erlebt?
Mit einem entschlossenen Blick stellte Lilly wieder ihren linken Fuß vor und versuchte, ihr rechtes Bein in einer
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