Land der Sehnsucht (German Edition)
würdevollen Geste hinter sich zu stellen und dabei gleichzeitig das Knie zu beugen und ihren Rock von ihrem Körper wegzuhalten. Entweder gab ihr Knie nach oder sie verlor das Gleichgewicht, und wenn sie sich nicht an dem Stuhl neben sich festgeklammert hätte, wäre sie ganz umgefallen.
Véronique wollte ihr zu Hilfe eilen, aber Lilly wehrte sie ab. Tränen traten in Véroniques Augen, und Tränen liefen auch über Lillys Gesicht.
„Das ist so … dumm!“ Lilly fand wieder ihr Gleichgewicht und schob den Stuhl weg. „Ich werde das nie können! Nicht so wie Sie!“
„Und wer sagt, dass du es so machen musst wie ich, ma Chérie? Gibt es da irgendein ungeschriebenes Gesetz, das ich noch nicht kenne?“
Sofort regte sich Véroniques Gewissen und sie wurde still. Wie konnte sie es wagen, diesem geliebten jungen Mädchen solche Worte zu sagen, wenn sie, eine erwachsene Frau, immer noch mit demselben Problem rang?
„Aber Sie sind so anmutig und so hübsch, Mademoiselle Girard. Und ich werde nie …“ Der Satz blieb Lilly im Halse stecken. Sie schüttelte den Kopf.
Véronique trat näher und hob sanft das Kinn des Mädchens an. Trotz ihres großen Altersunterschieds waren sie und Lilly gleich groß. Doch schon bald würde Lilly sie mit Leichtigkeit überragen.
Véronique spielte mit einer dunklen Locke an Lillys Schläfe. „Du bist jetzt schon so ein hübsches Mädchen. Diese dumme Bewegung, die wir heute Abend hier üben, kann das, was bereits eine unübersehbare Tatsache ist, nicht beeinflussen. Belastet dich noch etwas anderes, ma Chérie?“
Seufzend biss sich Lilly auf die Unterlippe. „Wir hatten heute einen Termin bei Dr. Hadley. Meine Eltern und ich. Wegen einer Operation.“
Als sie etwas von einer Operation hörte, war Véronique sofort besorgt. „An deinem Bein?“, flüsterte sie.
„Ja, Madam. Seit meiner Geburt ist eines meiner Beine kürzer als das andere, und mein rechtes Bein ist nie so gerade gewachsen, wie es sollte. Mein Vater hat immer meine rechte Schuhsohle erhöht, und das hat bisher genügt. Aber im letzten Jahr …“
Véronique glaubte zu verstehen, was sie sagen wollte. „Seit dein Körper sich von dem eines Kindes in den einer jungen Frau verwandelt …“
Lilly nickte. „Seitdem ist es viel schlimmer geworden. Vor ungefähr einem Monat hat uns Dr. Hadley von einer Operation erzählt, die ein Chirurg in Boston durchführt. Meine Eltern sagten, sie würden gern mehr darüber erfahren. Deshalb hat Dr. Hadley den Arzt über meinem Fall unterrichtet. Heute waren wir wieder bei Dr. Hadley in der Praxis, und er hat meine Beine und Knie und Hüftgelenke ausgemessen und sich alles Mögliche über meine Haltung und darüber, wie meine Beine sich bewegen, notiert. Das alles schickt er diesem Arzt im Osten. Es wird zwei Monate dauern, bis wir erfahren, was dieser Chirurg über mein Bein sagt, und ob er glaubt, die Operation könne mir helfen oder nicht.“ Sie schaute auf den Boden und spielte mit ihrem Baumwollrock. „Dr. Hadley hat uns heute mehr über diese Operation erzählt.“
Véronique sah Lillys Miene an, dass es keine guten Nachrichten gewesen waren. Sie forderte das Mädchen auf, sich zu setzen, und ließ sich dann auf dem Stuhl neben ihr nieder. „Diese Operation ist gefährlich?“
„Sie ist mit Risiken verbunden, sagt Dr. Hadley. Und sie ist teurer, als wir dachten.“ Lilly stieß ein humorloses Lachen aus. „Ich spare schon alles Geld, das ich habe, ich arbeite im Hotel, so viel ich kann. Meine Eltern haben auch zusätzliche Arbeiten angenommen. Mama näht und wäscht für andere Leute. Papa erledigt alle möglichen Arbeiten auf den Ranches und in der Stadt. Alles, was er finden kann.“ Sie kniff die Lippen zusammen. „Aber es wird Jahre dauern, bis wir genug verdient haben.“
„Dr. Hadley ist zuversichtlich, dass dieser Chirurg in Boston sich bereit erklären wird, diese Operation an deinem Bein durchzuführen?“
„Der Chirurg hat Dr. Hadley gesagt, dass er solche Operationen normalerweise bei kleineren Kindern macht, nicht bei jemandem, der schon so alt ist wie ich. Aber so wie ich es sehe, ist es ein gutes Zeichen, dass er bereit ist, sich meine Krankenakte überhaupt anzusehen, nicht wahr?“
Véronique nickte, da sie dem Mädchen Hoffnung machen wollte. „Und was hält Dr. Hadley davon?“
„Er sagt, so schnell wie mein Körper wächst und so wie meine Gelenke aussehen, müsste die Operation seiner Meinung nach noch vor Jahresende gemacht
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