Land Spielen
nie war. Alles gut, du und ich. »Warum kann es nicht einfach wieder …«, fragst du, und die Routine beginnt aufs Neue. Ich habe mich dran gewöhnt. Ich schicke dich ins Bett, schicke dich aus meinem Zimmer, schicke dich zur Arbeit, schicke dich in die Stadt zum Aufnahmegespräch in eine Klinik. Du gehst nirgends hin, ich sage Schulstunden ab, verschiebe sie und mich um ein, zwei Tage und weiß, dass es auch dann nicht gehen wird. Heute behaupte ich, die Heizung sei kaputt, für Unterricht sei es viel zu kalt. Was ich morgen sage, weiß ich noch nicht. Alles außer dass ich seit fünf Uhr morgens neben dir auf meinem Bett, das eine Gästematratze ist, sitze und dich bitte, eine Valium zu nehmen oder dich einweisen zu lassen. Dass ich mit dir bei einer Psychiaterin sitze oder am Abend vor dem Fernseher, während ich sage, dass diese Psychiaterin heute doch recht gehabt hat mit dem, was sie sagte, und du kannst dich kaum mehr erinnern, da überhaupt gewesen zu sein. Und deine Gedanken kreisen, wir kreisen, unser Alltag kreist, als wäre die Zeit stehen geblieben, als wäre dein Hirn ein Raubvogel, der gleich niederstechen will, du willst dich aus dem Leben schneiden, dass die Messer versteckt sind, würde dich nicht aufhalten. Es erspart mir bloß die Schelte, weil du dich schon wieder geschnitten hast, und die Drohung, dass ich dich selbst einweisen lassen muss, weil ich nicht mehr kann. Und ich kann nicht mehr, bin bewegungsunfähig, nur noch scheinbar funktionstüchtig, warte auf irgendeine Erlösung, eine Erleichterung.
Du kündigst deine erst gerade angenommene Stelle wieder, sprichst kaum mehr mit jemandem, ich fahre dich täglich in den Hauptort. Die Psychologin macht ein wissendes Gesicht. Von deinen Tischburgen, von dem Wunsch, dich aus der Welt zu reißen, erzählst du ihr dennoch nichts, bis ich es dir befehle, einbläue, tausendfach vorsage. Bis die Psychologin dir eine Psychiatrie empfiehlt, bis du dich da einmal hinbringen lässt, nur um dir das einmal anzuschauen, nur um festzustellen, dass du da nicht hinkannst, du sagst, dass da nur »fertige« Leute seien, die dich noch »fertiger« machen würden. Und es scheint, als ginge es dir besser, als habest du eingesehen, dass du die Verantwortung für dich tragen musst, wenn du sie nicht abgeben willst, oder sind es nur die Medikamente, von denen dir übel wird und die du bereits wieder abgesetzt hast, als ich aufgehört habe, dir die Nase zuzuhalten, damit du sie runterschluckst?
Und der Dorflehrer schreibt den Eltern einen Brief, lässt die Ferien eine Woche früher beginnen, der Dorflehrer schreibt: die Heizung. Der Dorflehrer sehnt irgendein Ende herbei, außer dem einen. Und der Dorflehrer weiß, selbst wenn sie eine neue Wohnung hat, selbst wenn sie in der Stadt lebt oder da, wo sie einst herkam, selbst dann wird er sie nicht los. Täglich wird sie anrufen, wird die immergleichen Fragen stellen. Er wird antworten, wird sagen, dass sie am Leben bleiben soll. Und er wird keine Antwort finden auf die Frage: »Warum?«, außer: »Tu mir das nicht an.« Und er bleibt so lange am Telefon, bis sie sich eine der Tabletten unter die Zunge gelegt hat, bis die Tablette geschmolzen ist, mit dem Hörer in der Hand liegt sie endlich im Bett, der Dorflehrer bleibt am Apparat, bis er weiß, dass auch dieser Abend vorbeigeht, dass sie auch diesen Tag überlebt hat. Bleib am Leben. Bitte. Bitte bleib am Leben.
Wir beschließen, Gläubige zu spielen. Der Sonntagmorgen ist uns ansonsten heilig, aber heute stehen wir früh auf, lassen Spielsachen links liegen und verzichten aufs Frühstück. Es ist niemand gestorben und keiner heiratet, zwei Konfessionslosgewordene und drei Ungetaufte wollen sich für ein Mal der Dorfgemeinde anschließen, wollen hinterher dem Pfarrer die Hand schütteln, wollen sagen: »Das hättest du nicht gedacht, dass wir mal kommen!«
Ralf freut sich am meisten, weil er weiß, dass sich die Dorfbewohner freuen werden. Endlich werden wir dazugehören, denkt er und beschließt, ab jetzt notfalls auch allein in die Kirche zu gehen. Moritz verflucht sich innerlich, weil er gegen seine Prinzipien verstößt, aber wir leben nun anderthalb Jahre im Dorf, haben noch viel zu wenig Bekanntschaften geschlossen. Wir brauchen nicht viel, höchstens einen, mit dem man mal einen Schnaps trinken kann, ohne gleich im Hirschen auf den Tisch hauen zu müssen. Darum freut er sich auf den Pfarrer, den er für einen Gebildeten hält, wenn auch auf dem falschen
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