Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
Vom Netzwerk:
sich nach seinen Kindern in England), er schrieb eine Postkarte, von der er nicht wußte, ob sie jemals ankommen würde, und ob die Kinder – natürlich nur Georg – sie lesen könnten.
    Es war ein Hurrikan der Kulturen und ein Fest für die Augen, für die Empfindungen eher nicht. Kornitzer, der durch die Rassengesetze der Nazis mit seiner Frau nicht mehr verheiratet sein sollte, staunte diese Häute an, geboren aus unendlichen Mischungen, um die sich niemand wirklich kümmerte. Es gab auch Wörter für die Abstufungen schwarzer Haut, die dunkelste hieß nach den Bakelit-Telephonen:
negro como el teléfono
.
    Er saß unter Palmen, hörte dem Palaver auf den Steinbänken um ihn herum zu. Er sagte sich selbst: Nun ja, meine Haut integriert sich, ich lerne die Sprache immer besser, meine Haut lernt das Bestehen in der Hitze, sie schält sich jedenfalls nicht mehr. Trat man von einer Avenida – Zuckerbäckerarchitektur mit Kuppeln, Bogengängen und Veranden, eine überbordende Ornamentik, sie war machtvoll und auch ein bißchen lächerlich, großsprecherisch – in eine kleinere Gasse, in der gußeiserne Balkone wie Vogelnester überhingen, konnte es sein, daß einem ein Mann auf die Schulter tippte und mit einem Packen Bilder wie mit Spielkarten wedelte. Er drängte einem den schmuddeligen Satz Karten förmlich auf,
posiciones
, Stellungen, eine pornographische Schulbibel in verschiedenen Hautfärbungen. Und wenn man abwehrte, vorschützte, kein Geld zu haben, wurde man in ein Etablissement genötigt, das einer düsteren Räuberhöhle glich, nur für ein Getränk!, nur für ein Getränk!, nur zum Anschauen!, nur zum Probieren! Das erste Getränk war frei. Und es wurde suggeriert, auch die erste Frau sei frei. Der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt: es war die erste Frau, der sich die gelenkten Phantasien entgegenreckten. Ein Dutzend Frauen lungerte herum, solche mit einem prächtig barocken Hintern, aufgeworfenen Lippen und Rüschen um den Busen wie ein Versprechen oder sehr junge mit Storchenbeinen und gelangweilten Gesichtern, andere, verschlafen wirkende am frühen Abend schon (oder noch?), in blumigen Unterröcken oder Morgenmänteln, unter denen die Schenkel prall hervorquollen, und es war schwer, sich wieder loszureißen aus den werbenden Worten, dem Tatschen und Getätscheltwerden, aus der Räuberhöhle in die faule Frühabendhitze.
    Dann dröhnten die Glocken der Kathedrale, die Fenster der Palais aus dem siebzehnten Jahrhundert rundherum waren mit Fahnen, symbolischen Schleifen und Blumen geschmückt, kleine Mädchen in Reih und Glied mit weißen Kleidern stellten sich auf, um den Erzbischof zu begrüßen, die Monstranz wurde in die Kathedrale getragen, in der Christoph Kolumbus begraben worden war, ehe die sterblichen Überreste oder das, was man dafür hielt, nach Sevilla überführt wurden. All die kleinen Mädchen knieten sich auf das Pflaster, ob ihre weißen Strümpfchen schmutzig wurden, war gleichgültig, jemand würde sie waschen. (Die Beschmutzung war dem Akt der Unterwerfung inbegriffen.) Sie begrüßten den Erzbischof, und dann führte eine Nonne sie in die Kathedrale, in der es einigermaßen kühl war. Kornitzer wollte sich das nicht merken, aber er behält es, er will es Claire erzählen, später einmal. Das Erzählen schafft Nähe in aller Entfernung. Er ist der Fremde, der nicht auf Assimilation aus ist, sondern darauf, seine Fremdheit als Instrument zu schärfen.
    Es gab Emigranten, die legten einen Aktenordner an:
Forderungen gegen das Deutsche Reich (Schadenersatz wg. schuldhafter Rechtsverletzung)
. In dem hefteten sie nicht nur die Rechnung der Schifffahrtslinie und der wöchentlichen Pension ab, sondern auch Straßenbahnfahrscheine und Wäschereirechnungen. Eines Tages würde all dies aufgewogen. Kornitzer gehörte nicht zu denen, so optimistisch war er nicht. Der Sammeleifer kam ihm eher komisch vor. Mit Kornitzer hatten etwa hundert Emigranten die
Reina del Pacífico
in Havanna verlassen, die übrigen Passagiere fuhren weiter nach Ecuador oder nach Chile. Die Emigranten mit dem Ecuador-Visum erzählten, daß sie ein Depot von 400 US-Dollar hinterlegen mußten und daß jeder Konsul verpflichtet gewesen war, dieses Mindestkapital von den Antragstellern zu verlangen. Einigen war freihändig zur Bedingung gemacht worden, 5.000 US-Dollar vorzuweisen, die sie nicht aufbringen konnten.
    Die Morgensonne gießt Gold über die weißen Prachtbauten. Auf den Telegraphendrähten balancieren

Weitere Kostenlose Bücher