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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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bezahlt hatte, wurden von der kubanischen Einwanderungsbehörde nicht zurückgezahlt. Rund 136.000 Dollar hatten die Hintermänner und der Chef der Einwanderungsbehörde kassiert, ohne daß die mindeste Gegenleistung erbracht wurde. Und das Klima blieb gereizt. „Konditionen einigermaßen“, das hätte Richard Kornitzer jetzt nicht mehr nach Berlin geschrieben, eher „Konditionen miserabel“. Jetzt kam es Kornitzer klug vor, daß Claire ihre Reise noch nicht gebucht hatte, daß sie ausharrte in Berlin. Und obwohl sie jede Passage nehmen mußte, die sich ihr bot, wenn sich überhaupt eine bot, wollte er doch glauben, es sei ihre Voraussicht gewesen, daß sie nicht mit der
St. Louis
gereist war. Aber Claire hatte vielleicht gar nichts getan. Oder etwas sehr Intimes: Sie hatte sich der Trauer um die Trennung von ihrem Mann und ihren Kindern hingegeben. Das hatte Zeit beansprucht. Ob das etwas Kluges, Vorausschauendes war, konnte kein Mensch sagen, und ihr selbst war es gleichgültig. So war es einfach.
    Die Passagiere der
St. Louis
, die vor Furcht, nach Deutschland ausgeliefert zu werden, wie versteinert waren, legten in vollkommener Schweigsamkeit und Entsetzen die Reise zurück. Auch andere Schiffe wurden zurückgeschickt, das Schwesternschiff der
St. Louis
, die
Orinoco
, das französische Schiff
Flandre
, die
Orduña
, wie die
Reina del Pacífico
ein Schiff der
British Pacific Steamship Navigation Company
. Die Emigranten-Zeitschrift „Aufbau“ berichtete über diese Schande. Man konnte es lesen, nur nicht in Deutschland. Unter den 900 Passagieren der
St. Louis
waren 113 Schlesier, las Kornitzer. Er dachte an das Begräbnis seiner Mutter, an die Verwandten aus Breslau, die er dort wiedergesehen hatte, er dachte an Breslau und fürchtete, die Verwandten hätten es ihm nachgemacht, als sie von seiner Emigration nach Kuba hörten. Er war ein Vorreiter und gleichzeitig einer, der in die Sackgasse geführt hatte. In allerletzter Minute bekamen die Passagiere der
St. Louis
aus humanitären Gründen Asyl in Belgien, den Niederlanden und Frankreich, einige auch in England, es war eine kurze Verschnaufpause, bevor die Deutschen die westlichen Nachbarländer überfielen. Die zweihundert Passagiere der
Orinoco
kamen nach Hamburg zurück, da verliert sich ihre Spur.
    Im September 1939 sperrten die Kubaner 57 Emigranten in ein Lager, warum, war nicht klar. Willkür, vielleicht hätte man einfach einen Beamten schmieren müssen, aber welchen? Oder fürchtete sich auch Kuba vor der fünften Kolonne? Alle hielten tendenziell die Hand auf, jeder
deal
war abschüssig. Man konnte auf das falsche Pferd setzen, und das falsche Pferd gehörte einem gebügelten, geschniegelten Herrn im weißen Leinenanzug, der sich maßlos ärgerte, wenn die erwartete Summe an seinen Kollegen von der anderen Seite ging oder an seinen Vorgänger oder Nachfolger im Amt. Auch Kornitzer mußte sich klarmachen, daß sein Arbeitgeber, gegen den er kein böses Wort sagen konnte, an solchen Durchstechereien vermutlich beteiligt war. Und wenn Santiesteban Cino einen Termin versiebte oder einfach nicht auftauchte, wie sehr Kornitzer auch hinter ihm her telephonierte, ahnte er, daß nicht die vierte Tochter verheiratet werden mußte, sondern daß er Gespräche oder Verhandlungen führte, die einfach über die Hutschnur des Emigranten gingen. Kornitzer war ein Garant der Ordnung, die jederzeit zerbröckeln konnte, aber er sollte seine Nase bitte nicht in alles Mögliche, in alles Kubanische, in das
Cubanísimo
, in den inneren Bezirk, stecken.
    Der Posten des Chefs der Einwandererbehörde wurde in kürzester Zeit dreimal neu besetzt, er war mit lukrativen Nebenverdiensten verbunden. So rasch ging es manchmal zu, daß der Fremde eine Lage ein halbes Jahr objektiv hätte prüfen müssen, und dann war die Situation vor seinen geblendeten Augen wieder undurchsichtig oder gänzlich verschieden von der Situation, von der er ausgegangen war, und das erneute Unwissen war beschämend, wenn nicht bestürzend. So war jede Entscheidung falsch und jede (vielleicht zufällig) richtig, und jeder Emigrant tappte in tausend Fallen und schämte sich seiner Unwissenheit. Mit anderen Worten: Es gab keine objektive Situation und dementsprechend auch keine objektive Prüfung. Kornitzer bat den Rechtsanwalt um Rat, bat ihn um politische Auskünfte und Einschätzungen, wenn er als freier Rechtskonsulent auftrat, aber Santiesteban Cino rang nur die Hände und sah ihn mit seinen

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