Landgericht
große, fette Ratten wie Seiltänzerinnen. Ununterbrochen klingelt ein Mann, der Eiscreme verkauft, Zeitungsverkäufer brüllen, Händler, die eher Bettler sind, viele Amputierte darunter, halten Lose der Staatslotterie feil. Andere Verkäufer preisen Mangos, Ananas und Bananen an und Gemüsesorten, die Kornitzer noch nie gesehen hat. Kornitzer sah aus dem Augenwinkel einen Mann, den er als Emigranten, der mit dem gleichen Schiff wie er gekommen war, sofort erkannte. Er trug ein lächerlich kleines, nicht einmal schattenspendendes Hütchen, zu warme, offizielle Kleidung, und er bewachte einen Parkplatz in der Nähe des Hafens, auf dem schöne, breithüftige Automobile standen, blank poliert, bewundernswert mit ihren ausladenden Scheinwerfern und hellen Ledersitzen. Kornitzer sprach den Mann an, wie es ihm denn gelungen sei, eine Arbeit als Parkplatzwächter zu ergattern. Und der Mann sagte mit großen Augen: Ich habe doch keinen Job! Ich stand hier herum wie Sie und bewunderte die schönen Autos mit ihren Chromstangen und energischen Schnauzen. Da kam jemand auf mich zu, der sich als der „richtige“ Parkplatzwächter vorstellte, und bedeutete mir, wenn ich Freude daran hätte, die schönen Automobile zu betrachten, könnte er mir leihweise für ein, zwei Tage in der Woche seinen Arbeitsplatz vermieten, und er ginge in der Zeit angeln. Und weil „wir“, hier hatte der Aushilfsparkwächter vollkommen recht, nicht arbeiten dürften, hätte er auch jedes Recht, seine Stelle an einen kreativen Autodieb zu verleihen, vielleicht für zwei, drei Stunden, am frühen Abend oder am frühen Morgen, oder er müßte nur fünf Minuten einmal wegsehen. Auch das würde seine Kasse sehr aufbessern. Und der Mann lachte, als wäre ihm die Kleinkriminalität schon in die deutsche Wiege gelegt worden.
Kornitzer reagierte an diesem Punkt wie ein geborener Richter: Aber wenn man Ihnen auf die Schliche käme? Wenn es Zeugen des Parkplatzwächter-Wechsels gäbe? Wenn Ihr Arbeitgeber Sie beschuldigte oder Sie Ihren Statthalter beschuldigen müßten? Bedenken Sie das doch, es könnte Ihre Ausweisung zur Folge haben. Ausweisung wohin? Kornitzer war in seinem Element, und der Mitemigrant, mit dem Kornitzer auf dem Schiff kaum gesprochen hatte, rüttelte an seinem komischen Hütchen, wußte nicht wirklich, wie er reagieren sollte, und sagte schließlich verschwörerisch: Danke für den Tip, ich werde mich sachkundig machen. Die Adresse eines guten Rechtsanwalts in der Tasche zu haben, ist sicher sehr beruhigend. Überhaupt wurde viel bewacht, Baustellen, damit kein Material verschwand, Villen, weil sie Eifersucht und Habgier erregten, und Wächter wurden wiederum von anderen Wächtern bewacht, denn sie galten als unzuverlässig.
Braune Kinder betteln um Münzen am Hafen. Am Kai warten Leute auf ihre Angehörigen, sie werfen ihre Strohhüte in die Luft und schreien ihre Willkommenswünsche ins Ungefähre so laut heraus, daß kein Mensch mehr etwas versteht. Kornitzer sieht auch weinende Leute, die vergebens auf Freunde und Verwandte gewartet haben. Und das bewegt ihn. Es ist wie ein stehenbleibendes Bild. Er steht selbst am Kai, wartet auf Claire, und Claire kommt nicht, und er weiß nicht warum.
Aber dann weiß er bald, warum Claire nicht kommt. Das nächste Schiff, das nach der
Reina del Pacífico
landen soll, heißt
St. Louis
. Der Luxusdampfer der Hapag-Lloyd war am 15. Mai 1939 aus Hamburg ausgelaufen. Er hatte etwa 930 jüdische Passagiere an Bord, von denen die meisten bereits im Besitz von amerikanischen Quotennummern waren. In Kuba wollten sie lediglich das Eintreffen ihres Visums abwarten, drei Monate oder schlimmstenfalls, wenn sie eine der letzten Quotennummern hatten, drei Jahre. Aber niemand konnte oder durfte ein Vermögen, das über drei Jahre reichte, mitbringen, alles war mit Abgaben belegt, weggesteuert worden. Als das Schiff am 27. Mai in Havanna ankam, wurde dem Kapitän Schroeder keine Landeerlaubnis erteilt. Sollte er sich widersetzen, würde das Schiff von kubanischen Kriegsschiffen aus den Hoheitsgewässern
hinausgeleitet
werden, hieß es. Was das bedeutete, war unvorstellbar, ein Rausschmiß ins Nirgendwo. Ein Passagier durfte an Land: Es war der 92jährige Professor Mendelsohn aus Würzburg, der auf der Überfahrt gestorben war, und vielleicht war dies das einzige Glück der Reise. Professor Mendelsohn landete ordnungsgemäß, jedenfalls seine sterblichen Überreste, und niemand fragte nach seinen Papieren.
Im
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