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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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Pariser Zentralgefängnis und dann im Lager Le Vernet als „feindlicher Ausländer“. Mit gefälschten Papieren kam Lamm nach Havanna. Diese Papiere später wieder in reguläre umzuwandeln, kostete viel Mühe und auch Geld. Die ersten sechs Monate hatte er im Internierungslager Tiscornia verbracht, und all das war wie Wasser an ihm abgeperlt. (Weil er ein deutsches Zuchthaus kannte, weil er ein französisches Internierungslager kannte? Weil er seine Widerstandskraft kannte?)
    Seit der Krieg begonnen hatte, fürchteten sich die Kubaner vor Spionen und steckten zunächst einmal alle neu ankommenden Flüchtlinge in ein Lager, da saßen sie in der Hitze unter skandalösen Bedingungen. Soldaten waren auf das Schiff gekommen und hatten die Neuankömmlinge wenig rücksichtsvoll in Motorboote getrieben. Das wollten sie sich nicht gefallen lassen, sie verlangten nach ihrem Gepäck, das sie vorher völlig ahnungslos Trägern überlassen hatten, in der Annahme, es ginge zur Zollkontrolle. Die Soldaten waren handgreiflich geworden, drängten und schubsten die Männer, Frauen und Kinder in Boote, die auf die gegenüberliegende Seite des Hafens fuhren. Es gab ein Gezeter und Geschnatter, Rufe nach Verantwortlichen und gleichzeitig stumme Erbitterung. Dazu war man um die halbe Welt gereist, um in der Freiheit herumgeschubst zu werden. Dann ging es mit Lastautos einen Berg hinauf, und ehe sie sich versahen, standen sie innerhalb einer Stacheldrahtumzäunung, sie waren Gefangene, ohne zu wissen, warum und weshalb. Es folgte die Prozedur der Gefangenen-Aufnahme durch einen Schreiber, alles sehr gemächlich und gleichzeitig routiniert. Ein höherer Beamter, an den man sich hätte wenden können, war nicht zu sehen, auch nicht aufzutreiben. Das schien als Taktik schlau. Ein tropisches Schweigen, ein Sich-Verneigen vor dem Unabänderlichen. Man hätte sich vorbereiten können, aber auf was? Kornitzer hatte viel Spanisch gelernt, das war gut, die Neuankömmlinge hatten das Überleben gelernt unter den vielfältigsten Bedingungen, und das machte sie widerstandsfähig. Die Neuankömmlinge wurden in einen länglichen Speisesaal geführt, wo es ein kärgliches Mahl gab. Und dann ging es in Schlafsäle, Männer und Frauen getrennt. Im Männerschlafsaal waren etwa hundert Personen. Man lag in übereinandergebauten Stellagen. Die Frankreich-Flüchtlinge kannten das schon, es war ein Albtraum der Wiederholung. Wer dem Wärter einen halben Peso in die Hand drückte, bekam ein Oberbett. Im Lager waren alle möglichen Gefangenen, man wußte nicht, warum darunter auch so viele Schwarze waren. Kartenspiele, abfällige Bemerkungen, hitzige Wortgefechte in allen möglichen Sprachen, es war eine Ankunft in der Hölle. Der anbrechende Morgen schien eine Erlösung zu versprechen. Die Gefangenen stürzten in den Waschraum, da gab es ein halbes Dutzend Duschen, nur leider funktionierten sie nicht. Die Gefangenen rüttelten an den Gitterstäben der Fenster und schrien
Agua, agua!
, aber niemand nahm Notiz von ihnen. Für die hundert Gefangenen eines Blocks waren nur wenige Klosetts zur Verfügung, aber was am meisten fehlte in der Gluthitze, war Wasser. Durchgeweicht, triefend, matt wie Fliegen sahen die Gefangenen aus, und eine Wolke von Ausdünstungen entströmte den vielen Menschen, der jeder ausgesetzt war und die er zu seiner Pein mitproduzierte.
    Endlich wurde das Barackentor geöffnet, man konnte hinaus ins Freie, aber die Luft war schwül, und das so begehrte Wasser mußte man halbliterweise kaufen oder, wenn man kein Geld hatte, erbetteln, und man mußte davon ausgehen, daß es verunreinigt war. Wie hätte es abgekocht werden können in der Hitze? Die Gefangenen schickten eine Abordnung in die Gefängniskanzlei mit der Frage, warum und wie lange sie festgehalten seien. Es war niemand für sie zu sprechen. Tage vergingen, ohne daß ein Beamter sich blicken ließ. Die Wärter vertrösteten:
Mañana
. Schließlich erfuhren die Inhaftierten von den schon länger Eingesperrten: Der Präsident der Republik hatte verfügt, daß alle Reisenden bis zur Überprüfung ihrer Papiere auf ihre Berechtigung angehalten werden müßten, weil kubanische Konsulate in Europa Visa für Geld verkauft hätten. Diese „Überprüfung“, ob ihnen nicht zu Unrecht Geld abgenommen worden wäre, gab erst recht einen Anlaß, den Flüchtlingen von neuem Geld abzuknöpfen, zugunsten der Beamten in Havanna. Dank der Anti-Korruptionsverfügung hatte man die Flüchtlinge nah genug

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