Landgericht
wollte, hatte in seine Tasche gegriffen und ein sorgfältig gebügeltes, gefaltetes Taschentuch hervorgezogen – ja, die Zimmermädchen in Máximos Hotel arbeiteten zufriedenstellend –, und er gab es der jungen Frau in die Hand. Sie dankte knapp, wischte, wischte an sich herum und schimpfte über alles, was männlich, kubanisch und schweinisch war. Dazu wollte Kornitzer – taktisch oder nicht taktisch – keinen Kommentar abgeben. Aber er betrachtete ihr Gesicht, das vielleicht in seinem Liebreiz nicht ganz auf der Höhe des obersten Wirbels war, aber plötzlich hatte sie ein Glitzern in den Augen. Ob sie erfreut war über seine Hilfsbereitschaft oder nur über das feine, noch aus Breslau stammende Batist-Taschentuch, wußte er nicht. Aber was tun mit dem Taschentuch, das sie ihm, nun ja, befleckt, befeuchtet zurückgeben mußte?
Später dachte er: Was wäre geworden, wenn sie es einfach eingesteckt hätte? Sie hätte ihn förmlich nach seiner Adresse fragen müssen, um es gebügelt, gestärkt, so wie sie es in Empfang genommen hatte, zurückzubringen. Andererseits: Gibt es überhaupt eine Form, eine taktvolle und offiziell anerkennenswerte Form, in der eine junge Frau, zornig, beschämt, einem Mann ein Taschentuch, benutzt, bekleckert mit einem fremden Sperma, zurückgeben kann? Nein, eine solche Form gibt es nicht, kann es nicht geben. Und das war den beiden, die sich ansahen in der Hitze Havannas bei der Endstation der Straßenbahn, wo schon die strohbedeckten Hütten zu wuchern begannen, die damals noch „Negerhütten“ genannt wurden, auch spontan klar. Also zurück in die Stadt, in eine Art von Anonymität. Und wir, die wir über die beiden nachdenken müssen, empfinden das nasse Taschentuch, das niemand wirklich in die Hand, geschweige denn in die Tasche nehmen möchte, auch als eine Bürde, und das bleibt es erzählerisch noch für eine Weile. Kornitzer macht eine in die Luft dirigierende Geste, die großzügig heißen soll: Schmeißen Sie es einfach weg. Aber die junge Frau, die ihm jetzt ihr Gesicht zukehrt und nicht das spitze ziegenartige Wirbelchen unter dem kurzen Haar, versteht ihn nicht wirklich. Aber er prägt sich jetzt ihr Gesicht ein, es ist auch spitz, ernsthaft, schelmisch um die Augen, und das Kinn, das sie vorreckt, ist genau auf der Höhe des Nackenwirbels. Den Wirbel seiner Handbewegung interpretiert sie so, daß er zuletzt auf ihn zurück zeigt, eine Rollbewegung, 360 Grad, vom Herzen ausgegangen, führt die Bewegung unzweifelhaft auf das Herz zurück. Und so hat er plötzlich ein Taschentuch, das er vermutlich in einer Sechser-Packung von seiner Mutter zum Abitur geschenkt bekommen hat, einzeln und feucht und fremd in der Hand, und er kann es nicht zurückgeben, ohne die junge Frau, die er ja doch gerettet hat aus einer peinlichen Situation, aufs Neue zu beleidigen. Nein, jetzt gibt es nicht mehr die Möglichkeit, daß sie das Tuch übernimmt und verspricht, es zu waschen und ihm zurückzubringen (eine Adresse erklärt auch einen Menschen). Nun müssen die Zimmermädchen, die Wäscherinnen in Máximos Hotel den Gegenstand übernehmen, ohne seine symbolische Bedeutung zu begreifen.
So beschließen der Mann und die Frau, Kaffee zu trinken. Schon ein Café zu finden und dann eine Bestellung aufzugeben, ist eine geschmäcklerische Angelegenheit, bei der man viel voneinander erfährt. Wie viel oder wie wenig Wasser soll in der Tasse schwimmen? Sind außer dem schwarzen Pulver Zutaten erwünscht? Rohrzucker? In welchem Stadium? Als Streuzucker oder in Würfelform? Ist Milch vonnöten für einen weißen Mitteleuropäer? Hände müssen hin- und hergreifen, sich überlappen, das kann angenehm sein oder nicht. Es ist dann doch sehr angenehm, aber das ist nicht das richtige Wort. Es ist einfach ein Fassen, Zusammenfassen, Bündeln von Energie. Die Hände wollen sich nicht loslassen, und dann sind auch die Lippen außer Rand und Band. Und es dauert nicht lange, da spürt Kornitzer das dünne, ziegenhafte Halsknöchelchen, das alle Beschützerinstinkte in ihm wachruft, in seiner hohlen Hand. Das hat er nicht geplant, viel weniger noch vorausbedacht. Claire ist (war?) eine Frau, die solche Instinkte in ihm nicht wachrief, eher beschützte sie ihn in der letzten Zeit in Deutschland. Insofern ist er jetzt ein Analphabet, ein Glücksritter, ein Goldschürfer, ein Freund einer nervösen Lehrerin für Mathematik und Geographie, und die Geographie ist seine Rettung.
Charidad Pimienta, so heißt sie,
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