Landgericht
in Betracht zog, er war wichtig, weil sie ihn in Betracht zog, mehr noch: mit Wohlgefallen betrachtete und an ihre schmale Forscherbrust zog.
Wegen ihres Namens nahm Kornitzer in der ersten Zeit der Liebe an, sie wende sich ihm, dem Emigranten, aus einer Art von humanitärer Überwältigung, aus Menschenliebe, aus Mildtätigkeit, aus sprichwörtlicher „Caritas“ zu, wie Señora Martínez ihn auch in manchen Situationen nur geduldig ertrug. Aber seine Geliebte, ja, das mußte er sich täglich sagen, seine Geliebte!, ertrug ihn nicht, duldete ihn nicht nur, ihre Liebe war Erkundung, lebendige Erd-Kunde: Furchtlos erforschte Charidad Pimienta die Erinnerung, die der kostbarste, verborgenste, im Dunkeln empfindlichste Teil war, dabei konnte die Forscherin selbst zu Schaden kommen. Sie fragte ihn nach seinem Leben in Europa, in Berlin, und er sah keinen Grund, ihr nicht zu antworten, wie es ihm angemessen erschien. Und da sie eine Forscherin im Schulformat war, schluckte sie ab und zu ein wenig, seufzte, schwieg eine Weile, aber das Wissen war besser für sie als jedes schonende Unwissen. Und irgendwann, also ziemlich bald in der Zeitrechnung der Liebe, fragte sie zaghaft, aber beherzt: Und wie alt ist jetzt dein Sohn, und wie alt ist dein kleines Mädchen? Nach Claires Alter fragte sie taktvollerweise nicht.
Und dann kam auch die Mathematik, die objektive Wissenschaft ins Spiel:
1. Wie weit ist die Entfernung zwischen konträren Empfindungen? Schuldgefühl auf der einen Seite und bedingungslose Nähe auf der anderen?
2. Und wie multipliziert sich die Liebe zu einer verlorenen Frau in Berlin mit der zu einer in Havanna gewonnenen, und wie ist die Wurzel zu ziehen aus Schmerz, dividiert durch Glück?
3. Und wie wäre (gesetzt den Fall) der Zinseszins aus zehn Jahren Vermissen, multipliziert mit der Ahnung eines weiteren Vermissens?
4. Und wo ist der Nabel der Welt zu orten, wenn die eine Ordnung das Wurzelziehen nicht kennt, die andere die Macht des Begriffes Null negiert? Erläutern Sie die Diskussion in ganzen Zahlen oder Angleichungen an ungebrochene.
Kornitzer rechnete selbst wohl ein bißchen, seit ihm ein Gummifingerhut anvertraut worden war und er auch für die Ökonomie der Kanzlei Santiesteban Cino arbeitete, die er nicht wirklich durchschaute, weil er das Schwarzgeld nicht einkalkulieren konnte, aber in Wirklichkeit träumte er, sah vielleicht in den Augen von Señora Martínez unendlich blöde aus (blökend?), und er hoffte, sie und der Rechtsanwalt ahnten nicht, warum. An solchen Tagen, während er über fremde Disziplinen nachdachte, von denen er nichts verstand, wünschte er sich, Charidad würde über seine Disziplin, das Recht, die Rechtsförmigkeit ihrer Liebe (oder den Mangel darin) nachdenken, wie er sich durch sie ungeschont und unangeleitet mit Mathematik und Geographie auseinandersetzte, aber – das dachte er auch – die exakten Wissenschaften, die sie nur kleinen kniestrumpfbewehrten Schülern beibrachte, waren leichter auf die Liebe zu übertragen als das Recht. Für Juristen überhaupt nicht. Für Liebende vielleicht (besser noch für verletzte oder unglücklich Liebende), wenn sie eine Entscheidung treffen mußten. Es gab ein Recht der Liebe, und es gab ein Unrecht der Liebe. Und beides war kaum unterscheidbar. Er jedenfalls, obwohl er ein liebender Jurist war, konnte keine Unterscheidung treffen. Und sich selbst nicht verurteilen.
Die Zeit mit Charidad verflog, verflog, sie alterte nicht, auch der Mann, der die Zeit – Jahreszeiten, Mondzeiten, Hitzezeiten, Hurrikanzeiten – erlebte als eine Glückszeit, ein Himmelsgeschenk, glaubte nicht zu altern und die Geliebte nur ein klitzekleines bißchen. Kornitzer fand, daß Charidad besser essen sollte, nur ein wenig rundlicher werden sollte, wie die anderen Kubanerinnen, und huldvoll nahm sie einen Teller
moros y cristianos
, schwarze Bohnen mit Reis, zu sich, den er ihr bestellt hatte, er verführte sie zu einem
crudito de pescado
, sie aß auch Papayas gerne, leckte sich die Finger, was er mit Vergnügen sah, und er berichtete ihr, wie Pflaumen schmecken. Es war schwer, ja fast unmöglich, den Geschmack mit Worten in der anderen Sprache zu beschreiben. Charidad hörte aufmerksam zu, aber Kornitzer sah an ihrem Gesicht, daß sie sich das Aroma des Fruchtgeschmacks, die herbstliche Süße der Pflaumen, umschwirrt von Fruchtfliegen, nicht wirklich vorstellen konnte. Er hatte sich einfach nicht exakt (oder poetisch genug?) ausgedrückt,
Weitere Kostenlose Bücher