Landgericht
Mainz zu erstellen. Lods tat das in großer Verwandtschaft zu den Nachkriegsplänen von Le Corbusier. Der Schutt sollte wie ein Wall dem Hochwasserschutz am Rhein dienen. Aber Mainz sollte zur
modernsten Stadt der Welt
werden und die Altstadt gleichzeitig als
Traditionsinsel
erhalten bleiben. Die Neustadt – oder was von ihr übrig war – sollte abgerissen und durch zehnstöckige Scheibenhäuser ersetzt werden, Standorte für die Verwaltung und Gewerbeflächen konsequent getrennt: die Industrie nach Gustavsburg, die Verwaltung entlang der Achsen Kaiserstraße – Große Bleiche, die weitgehend zerstört waren, angesiedelt werden, dazwischen ein aufwendiges System neuer Straßen, Schneisen, die die einzelnen Segmente miteinander verbanden und formal trennten. Die weniger wichtigen Teile von Mainz sollten eine Art von Gartenstadt werden. Weiträumigkeit, Funktionalität, menschenwürdige Behausungen, in kürzester Zeit aus dem Boden gestampft, waren die Schlagworte, und all das im
lichten Geist französischer Rationalität
, für die sich die wieder fromm gewordenen Katholiken nach ihrer Enttäuschung über den Führer, der sie im Schlamassel hatte sitzen lassen, herzlich wenig interessierten.
Die Maaraue sollte zu einem weitläufigen Sportzentrum entwickelt werden. Aber wohin, wenn die Sportler danach in eine Kneipe wollten, wohin, wenn die traditionellen Weinstuben-Verhocker spätabends in eines der weit entfernten Scheibenhäuser wollten, wo ihre Frauen gänzlich altmodisch auf dem Sofa warteten? Solche individualistischen Abenteuer interessierten die Architekten nicht. An Spaziergänger, an Querläufer zwischen den Quartieren, an Leute, die mit ihrem Hund herumgingen, an Mütter mit Kinderwägen war nicht wirklich gedacht. Jeder hatte eine Funktion, ein Terrain, der Architekt hatte angeblich an alles gedacht, nur nicht an die Freiheit des Stromerns, die Neugier jenseits der Funktionen.
Der neu gewählte Stadtrat von Mainz lehnte den Plan einstimmig ab, kein Geld, keine Phantasie, kein Mut. Lods entfernte sich, resignierte, und kein französischer Architekt, kein Modernist wurde in den nächsten Jahren in der Stadt gesehen. Ein zweiter Architekt, diesmal ein deutscher, wurde mit der Stadtplanung beauftragt, auch sein Plan wurde nicht umgesetzt, Zufälligkeiten und Kompromisse regierten den Wiederaufbau. DER GROSSE WURF war unheimlich, eine neue Totalität, vor der man sich wegduckte, und am Ende wurde die Stadt so, wie niemand sie sich vorgestellt hatte, aber sie wurde.
Insofern waren Richard und Claire zufrieden mit dem Schindelhaus, das sie bewohnten, das vor der verblaßten Erinnerung an das Neue Bauen, vor all den Überlegungen zum Praktischen ohne viel Theorie in Zusammenarbeit mit den französischen Besatzern gebaut worden war. Ein gemütliches Haus, aber Claire und Richard waren nie fürs Gemütliche gewesen, eher fürs Ausgefeilte, Strenge, Strukturierte. Ihr Haus war eine Art von verkleinertem städtischem Schwarzwald-Haus, ohne architektonischen Anspruch. Den hatten sie in Berlin zurücklassen müssen, aber doch nicht vergessen. Aber wenn das Ehepaar in die Domnähe kam, zum Fischtorplatz, zum Flachsmarkt, in die Mailandsgasse, wenn sie die Buden entlang der Ludwigstraße und der Großen Bleiche sahen, Buden wie Unterstellhäuschen an Straßenbahnhaltestellen, zuckten sie zusammen, und es schmerzte wirklich. Kornitzer hatte noch die Kraterlandschaft seiner ersten Spaziergänge in Mainz in Erinnerung, und jetzt wurde gebastelt und gebaut, gegraben und unterhöhlt und überwölbt. Und doch ging alles schleppend, als wären nicht nur Gebäude zerstört, es war, als hätten die Bombenangriffe das Herz der Stadt getroffen. Und mühsam, mühsam müßte es erst wieder aktiviert werden. Claire sprach wieder vom Ku’damm als einer Sehnsuchtsstraße, sie sehnte sich nach Eleganz, nach Schnelligkeit, zurück zu ihrem stromlinienförmigen Büro in der Nähe des Universum, sie sehnte sich auch nach dem Werbefilm. Das konnte Kornitzer gut verstehen, aber doch der unzerstörte Ku’damm!, wandte er ein. Aber da sie ihn beide nicht mehr gesehen hatten seit so langer Zeit, war die Klage auch in den Wind gesprochen.
Und dann fällt es Claire plötzlich wie Schuppen von den Augen. Wie eine Fata Morgana sieht sie es in weiter Ferne, nicht eine neu errichtete Bude im funzeligen Licht. Sie sieht etwas vor sich, und das strafft sie, erregt sie auch. Sie schläft schlecht, aber es ist keine zehrende Schlaflosigkeit,
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