Landgericht
Charidad ihm verzweiflungsvoll gesagt hatte, was sie als Lehrerin kann und was nicht sein darf – und wie fassungslos er ihr, der Kenntnisreichen, zuhören mußte. Kornitzer übersprang, daß er wegen seiner beruflichen Belastung keine Ahnung von der aktuellen Kinoproduktion hatte und das auch als keinen Makel ansah, und er wußte, daß auch Claire nicht übermäßig viele Filme gesehen hatte, die man jetzt in die Kinos hätte bringen sollen. Daß sie keinen Überblick über die Mainzer Situation hatte und vielleicht auch zu arrogant war, sie wirklich zu ergründen, ersparte er ihr als ein Argument. Es geht nicht, es geht nicht. Die Frau eines Landgerichtsdirektors kann nicht.
Das kam bei ihr an. Und sie räumte den Eßtisch ab, schweigend, verstimmt, spülte die Desserttellerchen und polierte die Weingläser, telephonierte noch am späten Abend mit Selma und George, Richard hörte nicht, was sie sagte, wollte es auch nicht wirklich. Es war ein Sehnsuchtsanruf, ein Anruf wie ein Appell. Denkt auch an mich, eure Mutter. Und er empfand sich selbst als hart, aber gerecht und vernünftig. Er konnte sich auch die süffisanten Bemerkungen im Landgericht vorstellen: Ihre Frau hat ein Kino aufgemacht?! Als hätte Claire einen Flohzirkus begründet, würde kleine Hundchen nach Bällen schnappen und sie auf der Nase balancieren lassen, als stellte sie lustige Liliputanerleutchen in Goldtressenuniformen aus. Das Kino, so schien es ihm in der Stadt Mainz, war selbst eine Art von vergrößertem Flohzirkus, der seine Position schmälerte oder ins Schräge, Unseriöse zog. Nein, es ging wirklich nicht, es war nicht „standesgemäß“, ein anderes Wort fiel ihm zu seinem Befremden nicht ein, vom unternehmerischen Risiko, das Claire vorausgesetzt hatte, einmal abgesehen. Er war einsam genug mit seinen Meinungen im Landgericht.
Claire zieht sich in ein Schweigen zurück, sie ist ihrem Mann nicht wirklich böse, ihr Mann ist nur der Vertreter, der Vermittler einer Realität, die sie nicht anerkennen will. Der Mensch in der Bank ist ein anderer Vertreter, die Kindergeldstelle des Landes auch eine andere, es ist eine Realität, die ihr feindlich ist, der sie den Rücken kehren möchte. Aber wohin?. Es schmerzt sie, als wäre sie an einem anderen Zeitufer stehengeblieben, und das Schiff wäre ohne sie abgefahren, ja, hätte ihr den Zutritt verweigert, nur weil sie eine Frau war. (Und was hieß „nur“?) Die Frau eines Landgerichtsdirektors. Jetzt klang es in ihren Ohren wie Hohn.
Claire hatte alte Kino-Adreßbücher aufbewahrt. Im Vorwort des Bandes von 1939 hatte der Leiter der Abteilung Film im Propagandaministerium, Dr. Fritz Hippler, geschrieben:
Es versteht sich von selbst, daß die Aufgaben des Krieges besondere Anforderungen in jeder Hinsicht mit sich brachten. Trotzdem kann festgestellt werden, daß der Krieg für das gesamte deutsche Filmwesen nicht nur keine rückläufigen Tendenzen, sondern im Gegenteil eine unerwartet hohe Aktivierung herbeigeführt hat
. Da hatte man ihr die Firma Prowerb längst abgeluchst und kaputtgemacht. Aus den vielen Initiativen, Filmfirmen und den Verzeichnissen der Schauspieler, freien Kameraleute, Regisseure, einem glanzvollen
Who is Who
des Kinos, war ein tristes Verzeichnis der Mitglieder der Reichsfilmkammer und der für den Film wichtigen Behörden- und Parteistellen geworden. Ein Dokument der Gleichschaltung. Nichts vom Glanz war geblieben, das Kino war in die Kriegswirtschaft getaucht, und Claire war nicht mehr ins Kino gegangen, sie wollte nicht mit Leuten, mit denen sie nichts zu schaffen hatte, im Dunklen sitzen. Sie ertrug das dröhnende, röhrende Heldentum nicht. Ehefrauen und Bräute schleppten ihre Soldatenmänner, wenn sie Heimaturlaub hatten, ab ins Kino. Dort mußte man nicht sprechen, dort war die Entfremdung der Lebensbereiche in zuckersüße Watte gepackt. So waren die Kinos immer voll. Im Vorwort des Kino-Jahrbuches wurden die Etappensiege gemeldet:
Seit Kriegsbeginn weisen die Lichtspieltheater eine Besuchersteigerung von 14 Prozent und eine Umsatzsteigerung von 12 Prozent auf. Für das Jahr 1940 dürfen wir unter Zugrundelegung der Zahlen des letzten Halbjahres mit einer Besucherzahl von 700.000.000 und einem Umsatz von 500.000.000 RM rechnen. Damit erreichen wir für sämtliche Filmhersteller, die vor wenigen Jahren zum Teil noch beträchtliche Verluste aufwiesen, eine Liquidität, die sich wiederum auf die weiteren Filmvorhaben befruchtend auswirken wird
. Claires
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