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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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vorzustellen, kleine Häuser, kleine Leute, großes brausendes Fahnengestöber, lautstark in der engen Gasse auf den Asphalt geschmettert. Hinter den Häusern ein Streifen Land, ein Fliederbusch, ein krummes Apfelbäumchen, eine Teppichstange, zwei Grasnarben und ein Beet mit Petersilie und Salat, Kohlköpfe, von Kohlweißlingen angefressen. Und vermutlich zwei, drei Kisten aufeinandergestapelt, in denen Kaninchen fett gefüttert wurden.
    In ihm war ein tiefes Schweigen, kein Empfinden. Das Empfinden wäre vorschnell gewesen, ein vorschnelles Nein oder Vielleicht, kein Ja jedenfalls. Er studierte den Vorort, wie er Akten studierte: mit einer grenzenlosen Aufmerksamkeit für jedes Detail, das in einem ganz anderen Zusammenhang wichtig werden könnte. Wer in dieser Beobachtung nicht wichtig war, war er selbst: Kornitzer, das Subjekt. Er befolgte die Regel, die eigene Befindlichkeit keine Rolle spielen zu lassen. Der Jurist war an Objektivitäten gebunden, die nur vermittelt nach seinem subjektiven Empfinden fragen, „nach seinem Ermessen“. Nach seinem Wohlbefinden hier und dort schon überhaupt nicht, er konnte die Gassen ja doch nicht wie Delikte in Augenschein nehmen oder wie Tatorte, an denen etwas geschah, an denen etwas geschehen konnte, mit ihm, mit seiner Frau, mit seiner verstreuten Familie, an die zu denken ihm ein Zittern in den Knien verursachte, also Nüchternheit, Wahrnehmung und keine Klage im Voraus.
    Er ging eine Gasse entlang, er ging eine zweite Gasse entlang, nicht wirklich entschließen konnte er sich, die Gasse zu suchen, deren Namen die Dame auf dem Wohnungsamt ihm aufgeschrieben hatte, es war ein Zögern, das er sich selbst nicht erklären konnte. Als er herausgefahren war aus der Stadt in der Mittagspause, schien es ihm noch selbstverständlich. Er würde sich durchfragen, er würde die entsprechende Hausnummer suchen, er klingelte und sagte seinen Namen: Sie haben zwei Zimmer zu vermieten, das Wohnungsamt hat mir einen Berechtigungsschein gegeben. Darf ich die Zimmer sehen? Das schien so einfach, so einfach auszusprechen auf dem Weg heraus aus der Stadt, und nun im Vorort wollte er gar nichts sehen, nicht die prüfenden Augen der Hausfrau, nicht die Kinder, die sich hinter ihr drängten, mit offenen Mündern den fremden Mann anstarrten, er hatte genug gesehen, Sandstein und Ziegelstein, Zickzack, Enge, Kleinmütigkeit, das mußte er erst mal verdauen. Auch das Zögern der Hausbesitzerin, ihn ins Haus zu lassen, wollte er verschlucken. Die Begründung des Zögerns, daß möglicherweise die Frau am Abend ihren Mann fragen mußte, wollte er nicht hören. Und auch nicht den Ratschlag, daß ein ganz anderer Termin, vielleicht am Samstag, viel passender erschiene: „Das Zimmer ist noch nicht gemacht.“ Er konnte sich auch ein ungemachtes Bett als ein gemachtes vorstellen, daran sollte es nicht liegen. Und überhaupt, er wußte ja, daß ein zukünftiger Mieter mit einem Berechtigungsschein, der ihm ein Vorrecht vor anderen Mietern auf dem Papier einräumte, auch ein Ärgernis war, für diejenigen, die Wohnraum hatten melden müssen, und die, die Wohnraum beanspruchten mit einem Laufzettel, denn nichts anderes war der hoch gehandelte Wohnberechtigungsschein. (Konnte man ihn erschleichen, erhandeln auf dem Schwarzmarkt, von dem er nichts verstand, oder mußte man unschuldig mit weißen Händen, mit einer Stimme, die Kreide gefressen hatte, im Amt vorsprechen?) Das stand in den Sternen, aber er wußte nichts von Sternen und ihren Auswirkungen auf erregte und verzweifelte Gemüter. Der Wohnberechtigungsschein, von dem ihm die Frau in der Geschäftsstelle des Landgerichts erzählt hatte und den man ihm im Wohnungsamt zu seiner Verwunderung in die Hand gedrückt hatte, zusammen mit einem Blatt über die Ausführungsverordnungen, das war eine Gegebenheit, an die er sich hielt, wie schlecht sie auch umgesetzt wurde. Er hatte den Schein entgegengenommen, ihm würde ein angemessener Wohnraum zustehen. So waren die Vorschriften. Wie eine Machete, dachte er. Und dann wollte er nichts mehr denken.
    Kornitzer befingerte in der Tasche noch einmal den Berechtigungsschein, dann machte er kehrt. Er erreichte einen Platz, den die Straßenbahn umkurvte, da stand die Ortsbürgermeisterei, ein trutziges Gebäude, das unbeschadet den Wilhelminismus überlebt hatte und treuherzig in den hellen Tag guckte. Es war nur wenig größer als die Siedlungshäuser in den Gassen, ein schmales, dreifenstriges Häuschen mit einem

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