Landgericht
den Puls fühlte und ihm starr ins Gesicht sah. Ein Beobachter, der zu ihm hoffnungsvoll „Landgerichtsrat Dr. Kornitzer“ sagte, als wolle er ein Gespräch führen, das dann doch nicht stattfand, und er wunderte sich nicht. Auch erschrak er nicht mehr sonderlich bei der ungewohnten Bezeichnung.
Bang, schlug eine Eisentür, und es war ein Gefühl, als schlüge sie gleich neben seinem Kopf zu, schlüge auf seinen Kopf. Der Knall vibrierte noch nach, er erwartete das nächste Türenschlagen, ein unendliches Türenschlagen. Er nahm die dünne Decke vom Bett, wickelte sie sich um die Knie, er hätte sie sich um die Ohren wickeln müssen, aber dazu war sie zu groß und zu sperrig, sie roch auch nicht gut, und gleichzeitig geriet er ins Tagträumen. Und in diesen Träumen spielte Claire so gar keine Rolle, eher waren es steife Hüte, die er vor sich sah, solche, die man zwei Jahrzehnte später Arbeitgeberhüte nannte, Hüte, die auf einem Schachbrett hin und her geschoben wurden, er sah sie vor sich, ganz ohne Leidenschaft und innere Beteiligung, und nachdem er mit diesem Bild eine Zeitlang – wie lange, konnte er nicht sagen – gedriftet war, warf er sich seine Leidenschaftslosigkeit vor, und gleichzeitig wußte er, daß er zu streng über sich selbst urteilte. Vielleicht war es übertrieben, an sich selbst einen Maßstab legen zu wollen, der mit seiner professionellen Urteilsfähigkeit nichts mehr zu tun hatte (oder nichts mehr zu tun haben wollte). Es war eine Reaktion des Gehirns. Jetzt war es genug, er machte sich für die Nacht fertig, morgen, morgen würde er Claire berichten. Aber das, was ihm durch den Kopf ging, war es nicht, was er im ersten Überschwang schreiben wollte. Der Bericht war eine Schrumpfform, die seine Empfindungen nur mühsam in sich aufnehmen konnte. Die Ereignislosigkeit, aus der sich nur ein sinnloses Bild ergab, war richtiger. Er stand an einem Neuanfang, und er würde ihn gut bestehen. Es war fast ein Versprechen, das er sich selbst gab.
Mombach
Häuserchen in einer Gasse aneinandergelehnt, mit der Schmalseite nebeneinandergeklebt. Finger müssen klebrig geblieben sein beim Biegen und Kniffen wie bei einer kleinteiligen Bastelarbeit. Alles ist feucht, befeuchtet, in einer künstlichen Erregung gehalten worden, in einer Erregung, die nur das Miniaturformat betrifft. Die Größe des Problems ist von der Kleinheit (Kleinlichkeit) des Formats nicht betroffen. Das Format stellt sich selbst aus, und zwar so: Ein Mann mit einem gewissen Anspruch braucht eine Wohnmöglichkeit, die seiner zukünftigen Arbeit angemessen ist. Er hat eine Familie, mittelgroß, die noch zerstreut ist, die er aber sammeln möchte. Eine gute Wohnung wäre wie ein Herd, um den sich die Familie scharen könnte, eine Hoffnung, wie alles optimistisch, hoffnungsvoll, mittelgroß hoffnungsfroh arrangiert sein müßte. Also nimmt Kornitzer die Trambahn Nr. 1 und fährt hinaus in den ihm vorgeschlagenen (angewiesenen?) Bezirk, nach Mombach. Die Zerstörungen an der Mombacher Landstraße, dort wo sie hinter dem Güterbahnhof beginnt, hatte er schon gesehen. Mit seinem jetzigen Ausflug verbunden ist eine gewisse Ängstlichkeit, er versucht, sie mit der Zukunftshoffnung in der Waage zu halten. Er fährt an hüfthoch zu Wällen aufgeschichteten Ziegeln vorbei, die aus den Trümmergrundstücken herausgeklaubt und vom Mörtel befreit worden sind, er hat ein Klopfen im Ohr, ein dauerndes Hämmern, Klappern, Pochen und Schaben, es begleitet ihn den ganzen Tag, rastlos, mit verbissenem Eifer werden die Fahrwege und die Grundstücke freigeschippt und freigeschaufelt. Aber nun ist Mittagspause, und die Schuttbahn, die in kleinen Loren die Ziegel dorthin transportiert, wo sie gebraucht werden, steht still. Die Frauen, die sie lenken und die die Steine abklopfen, sitzen am Straßenrand und beißen bedächtig in Brote. Zwischen die Knie haben einige Thermosflaschen geklemmt. Ruinen und Staub, Staub und Ruinen. Kurz nach dem Kriegsende, so hatte ihm ein Justizangestellter erzählt, habe es „Arbeitsfallen“ gegeben. Wo man im Trümmergewirr nicht auf Hausbewohner zurückgreifen konnte, weil sie tot waren oder evakuiert, habe man Passanten zur verkehrsnotwendigen Entrümpelung gezwungen. Für drei Stunden, für fünf Stunden, für zehn Stunden. Zuhause oder in dem, was von einem Zuhause übriggeblieben war, hätten die Angehörigen voller Sorgen gewartet und sich geängstigt. Diese Methode sei sehr erfolgreich gewesen. Keine Werbung um
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