Landgericht
er, in seinen Bezügen sei nicht berücksichtigt worden, daß er inzwischen geheiratet habe. Am 1. 7. 1949 erreicht er die Gehaltsgruppe A2 b. Die Angst, die er ein gutes Jahr lang gehabt hatte, war unbegründet.
Am Nachmittag wurde Kornitzer vom Präsidenten vereidigt, es war eine Zeremonie, die ihn bewegte, und das Glas Riesling, das er danach von einer Justizangestellten gereicht bekommen hatte, schmeckte ihm. Es schwirrte ihm noch der Kopf von den Namen all der Kollegen, die er sich merken mußte. Aber er war guten Willens.
Landgericht Mainz
Gegenwärtig:
Landgerichtspräsident Dr. Krug
Mainz, den 31. August 1949
Zur Vornahme seiner Beeidigung erscheint der Landgerichtsrat Dr. Richard Kornitzer, geb. in Breslau am 4. Juli 1903, wohnhaft in Mainz
.
Er ist durch Verfügung des Ministeriums der Justiz in Koblenz vom 4. August 1949 als Landgerichtsrat bei dem Landgericht Mainz eingestellt worden
.
Die Eidesformel:
„Ich schwöre Treue meinem Volk, Achtung gegenüber dem Willen der Volksvertretung, Gehorsam der Verfassung, den Gesetzen und meinen Vorgesetzten, sowie gewissenhafte Erfüllung meiner Amtspflichten.“
wurde ihm vorgelesen
.
Unter Erhebung der rechten Hand leistete Landgerichtsrat Dr. Kornitzer den Eid mit den Worten:
„Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.“
Hierüber wird diese Urkunde aufgenommen und von dem Vereidigten mit unterschrieben
.
Es war ihm so feierlich zumute, als würde die Zeit zurückgedreht, als wäre er noch in Berlin, als er zum ersten Mal vereidigt worden war, als er sich in aller Unschuld freute über den feierlichen Akt. Jetzt drängte die Arbeit, die Fälle wurden verteilt, er mußte seine Beisitzer zu sich rufen, er mußte sich einarbeiten, und so zog er sich rasch, nachdem er sich nach einem Platz umgeschaut hatte, wohin er das leere Weinglas stellen konnte, in sein Dienstzimmer zurück und begann, Akten zu studieren und die erste Sitzung vorzubereiten.
Am Abend im Bunker unter dem Licht der Seidenschirmlämpchen kam ihm sein Leben wie ausgedacht vor. Als hätte er gar keinen Charakter und kein Leben, sondern wäre eine hin- und hergeschobene Figur, die sich zu dieser passiven Bewegtheit vorzüglich eignete. Aber es nutzte nichts, in der Halle unter den übriggebliebenen Gästen zu sitzen, ihrem Holterdiepolter mit Schuhen und Gepäckstücken und auf dem Beton hin- und herschleifenden Stuhlbeinen zuzuhören, ihrem Kommen und Gehen zuzuschauen, ihre Gesichter vermied er anzusehen. Er mußte in seine Koje und saß noch eine Weile an dem kargen Tischchen. Er hatte das Gefühl, sofort an Claire schreiben zu müssen, daß er gut angekommen sei, daß er schon Kollegen kennengelernt habe, daß er vereidigt worden sei. Ja, er müßte sofort an Claire schreiben, damit ein Zipfel der Spontaneität, die sie durch die lange Trennung verloren hatten und die mühsam wieder zum Vorschein kam, gewahrt bliebe. Er hätte schreiben müssen, er sähe vor sich eine Folge von überbelichteten Bildern in engen Zimmern, in Schläuchen, in denen die Decken zu hoch waren, in denen es an zu öffnenden Fenstern mangelte und die Türen wären nur dazu da, eine Schamschwelle zum Draußen zu bilden. Jede winzigste Dosis Lärm ließen sie hinein. Es war schmerzhaft, aber es war „wirklich“. Als wäre er am Bodensee in einer ihm zugedachten Filmrolle erstarrt. Aber das grüne Gras, die Kühe, die Berge, die Apfelplantagen und die rotbackigen Kinder und Claire, die das eine (die vernünftige Gegenwart) und das andere (die in einen Abgrund gerutschte Vergangenheit) miteinander bündelte, waren doch real, wirklicher als „wirklich“. Allein am Bodensee wäre er eine andere Person gewesen, gerafft, gestrafft, Claire hatte ihn mit der Person, die er gewesen war, bevor er emigrierte, verknotet, er kannte diese Person kaum mehr, ein junger Richter in einer Zivilkammer, Beisitzer eines Landgerichtsdirektors mit einem Schmiß am Kinn und einem energischen Haarwirbel auf dem Kopf. Nun schien ihm die eine Person (vor der Vertreibung) naiv und die am Ziel der Vertreibung sentimental, und die, die er am Bodensee entdeckt hatte in sich, war aufs Äußerste gespannt und war sehr, sehr nachdenklich geworden, und er wußte nicht, was aus diesen unverbundenen historischen Teilen geworden wäre, säße er hier nicht still in der Bunkerzelle ohne eine einzige Ablenkung, nur sich selbst und seiner Untätigkeit überlassen. Er war bei sich und ganz weit weg, wie ein Beobachter, der ihm (also sich selbst)
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