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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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waren Mitglieder der NSDAP gewesen; befangen fühlte sich niemand von ihnen gegenüber dem Überlebenden von Auschwitz. Der psychiatrische Gutachter nannte Auerbach einen
pseudologischen Psychopathen und Phantasten in chronologisch gehobener Stimmungslage
(meinte er
chronisch
, und warum unterlief einem Psychiater dieser bemerkenswerte Lapsus, an welche Zeit, an welche Zeitabläufe fühlte er sich gekettet?), er nannte Auerbach weiter:
in der Pubertät steckengeblieben, impulsiv, wehleidig, hysterisch
. Es war schon eher eine Beschimpfung als eine Diagnose. Für
vermindert zurechnungsfähig
hielt er ihn allerdings nicht. Von allen Anklagepunkten blieb letztlich nur übrig, daß Auerbach zu Unrecht einen Doktortitel getragen hatte und die Mittel für die Entschädigungszahlungen am Rande der Legalität auf unorthodoxe Weise besorgt hatte.
    Am 26. Verhandlungstag, am 3. Juni 1952, wurde der Haftbefehl gegen Auerbach aufgehoben. Nach 55 Verhandlungstagen wurde die Beweisaufnahme geschlossen. Kornitzer kaufte sich die „Frankfurter Hefte“ und las darin ein
Plädoyer eines Christen für einen jüdischen Angeklagten
. Das hörte sich gut an. Auch die Vorstellung des christlichen Verfassers, daß
dieser Prozeß gegen einen Juden (…) aufs engste mit der Geschichte unseres Volkes zusammenhängt
, war richtig. Doch dann machte der Aufsatz eine Volte, und der Autor bat das Gericht:
Entlassen Sie ihn
(Auerbach)
mit einer Botschaft an den Präsidenten des Staates Israel mit der Bitte, dieser möge über Schuld oder Unschuld des Angeklagten befinden, nachdem das deutsche Volk im Augenblick noch das Recht dazu verwirkt hat
. Kornitzer las das und schäumte vor Zorn. Da wollte jemand großherzig und reumütig einen deutschen Staatsbürger nach Israel schicken. Ein Mann sollte, weil die Deutschen so unfähig waren, ihm gerecht zu werden, höflich des Landes verwiesen (hinauskomplimentiert) werden. Wann würde man ihm, Kornitzer, höflich nahelegen, sein Platz wäre doch eher in Israel? Den Antisemitismus, den das Münchener Landgericht nicht in seinen eigenen Kammern bändigen konnte, sollte Israel heilen. Ein Staatspräsident als Pseudo-Richter. War es nicht an der Zeit, in Deutschland reinen Tisch zu machen? Hatte der Autor nicht das Grundgesetz gelesen? Ihm sträubten sich die Haare, und sein juristischer Fachverstand rebellierte. Und während Kornitzer dieses gutgemeinte Plädoyer in der ehrenwerten Zeitschrift immer wieder las, spürte er einen scharfen Schmerz im Oberkörper, der bis in den Arm ausstrahlte. Jetzt sterbe ich, dachte Kornitzer, jetzt über diese Zeitschrift gebeugt, mit knapp fünfzig Jahren. Ich erleide einen Herzinfarkt, er beobachtete sich selbst, und er wunderte sich nicht. Dann verging ein wenig Zeit, er saß immer noch auf seinem Schreibtischstuhl und war offenkundig nicht gestorben. So rasch wie der Schmerz gekommen war, verschwand er wieder. Hätte man ihn einen Tag vorher gefragt, was er über das Sterben mit knapp fünfzig dächte, er wäre in Panik geraten. Jetzt, im nachhinein, kam ihm der Anfall fast vernünftig vor, eine logische Folge seiner Erregung. Claire, das beschloß Kornitzer, wollte er nichts von dieser Attacke sagen. Sie sollte sich nicht ängstigen.
    Vier Monate dauerte der spektakuläre Prozeß, die Verteidigung plädierte in den wesentlichen Punkten auf Freispruch und Einstellung des Verfahrens. Das Plädoyer nahm sechzehn Stunden in Anspruch. Am 14. August – Kornitzer hatte gerade einen Ausflug mit George und Selma nach Speyer gemacht, von dem ihm beschämenderweise kaum eine Erinnerung blieb – wurde Auerbach wegen einer Reihe von Einzeldelikten – Unterschlagung, Bestechung, Meineid und Vortäuschung eines Doktortitels – zu einer Gesamtstrafe von zweieinhalb Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von 2.700 DM verurteilt. Auch einige seiner Mitarbeiter wurden verurteilt. Stehend, im schwarzen Anzug, nahm er gefaßt das Urteil entgegen, ein
Urteil ohne Ansehen der Person
. In der Nacht nach seiner Verurteilung verübte Philipp Auerbach im Krankenhaus Josephinum mit einer Überdosis Luminal Selbstmord, sein Tod wurde am 16. August um 11.45 Uhr festgestellt.
    Im Polizeibericht über seine Beisetzung hieß es – nahe am NS-Sprachgebrauch –, die Polizisten
säuberten
den Eingang zum Friedhof und das eigentliche Friedhofsgelände. Mit Hilfe von Wasserwerfern
sprengten sie die Veranstaltung
, die eine Beisetzung eines Toten war.
Zwei in Reserve gehaltene Hundertschaften der

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