Landgericht
Apotheose des guten Richters, die zum Lachen oder zum Entsetzen war:
Welche Eigenschaften, welche Haltung muß der Richter haben, wenn er den ethischen Anforderungen seines Berufsstandes entsprechen will? Der Richter muß in erster Linie Mensch sein, er muß als solcher Verständnis, Güte und Humor auch für menschliche Schwächen zeigen
. War das unbedingte und frühzeitige Eintreten für die NSDAP eine menschliche Schwäche? Kornitzer grübelte, und er war allein mit seinen Gedanken und las weiter:
Deshalb unterliegt der politische Irrtum niemals der richterlichen Beurteilung. Wer sich politisch geirrt und damit vielleicht sein Volk geschädigt hat, kann und muß unter Umständen aus dem politischen Leben ausgeschaltet und damit politisch unschädlich gemacht werden, aber irgendwelcher strafrechtlichen Beurteilung unterliegt er nicht. Der echte Richter wird deshalb eine Verurteilung wegen politischen Irrtums immer ablehnen, wenn nicht in seinem Gefolge strafrechtliche Tatbestände zur Beurteilung stehen
.
Kornitzer klappte das Buch zu, stellte es ins Regal und setzte sich wieder an den Bibliothekstisch. Draußen knatterte eine Betonmischmaschine, es war ein monotones Geräusch, ein regelmäßiges Bollern, das einem den Kopf durcheinanderwirbelte. Kornitzer hörte auf das Geräusch und bemühte sich gleichzeitig, es zu überhören. Aber das Ohr ist kein Organ, das vom Willen regiert wird. Mainz war jetzt ein dauerndes Rumoren, Baggern, Wühlen. In der offiziellen Sprache hieß so etwas:
Die Abräumungsarbeiten sind beendet. Das Kellermauerwerk ist entfernt und die Hohlräume sind bis in Gehweghöhe mit Feinschutt verfüllt worden. Es ist nichts mehr zu veranlassen
.
Am besten war es, man verhielt sich mucksmäuschenstill, man tat seine Arbeit, man fiel nicht auf, gab sich nicht als ehemaliges Mitglied einer Spruchkammer, als Jude, als Trauernder um Philipp Auerbach zu erkennen, gab keinen Anlaß, antisemitische Äußerungen, Taktlosigkeiten, Nadelstiche auf sich zu ziehen. Am besten, man war wortkarg, sah nicht nach links und nicht nach rechts und tat seine Arbeit. Am besten, man war tot. (Kornitzer wollte nicht denken: Am besten tötete man sich selbst wie Auerbach, obwohl auch darin eine schmerzende Logik war.) Es mußte eine Genugtuung für alle verkappten Feinde der Bundesrepublik, für alle verstockten Deutschen sein: Wer dem Konzentrationslager entkommen war, wer aus der Emigration nicht wirklich angekommen war in dem Land, das er verlassen hatte, verschwand wieder sang- und klanglos, putzte sich selbst weg, aus Scham, aus Traurigkeit, aus Erbitterung, aus Ekel. Es war ein Gedanke, den er sich zu denken verbot. Aber er kam wieder, ungefragt. Es gab Gedanken, die ein Richter nicht denken sollte. Und es gab Fragen, die ein Historiker nicht stellen durfte, weil sie metaphysisch sind. Und es gab Antworten, die niemand zu geben imstande war.
Sein Herz ausschütten, das war es nicht, was er wollte. Das Herz mußte versteinern. Nun war die Aufarbeitung schlecht und recht getan, war ein Torso geblieben, und alles, was ihn freute an seiner Arbeit, am Fortschritt beim Zusammenflicken seiner Familie, bei den persönlichen Angelegenheiten, schien plötzlich im Sumpf zu stecken. Da blühten sie, Sumpfdotterblüten über den Bombentrichtern auf den Wiesen am Rhein, in denen sich das faulige Wasser sammelte und Mücken brüteten. Zog er die Richterrobe an für die Verhandlungen, fühlte er sich sicher. Zog er sie aus und ging die langen Flure des Landgerichts entlang, grüßte er nach allen Seiten und fühlte sich nackt.
Die Kinder kamen jetzt regelmäßig in den Ferien. (Aber wie lange noch?) Es war ein leichtes Zittern, ob sie kämen, eine Erleichterung, wenn sie sich anmeldeten. Von allen Familienmitgliedern war viel Einfühlungsvermögen verlangt. George hatte keinen Studienplatz in Cambridge bekommen, und es schien ihn nicht einmal sonderlich zu kümmern. Er besuchte jetzt eine Ingenieurschule und war damit zufrieden, jedenfalls sagte er nichts anderes. Er sagte überhaupt wenig, hörte aber gerne mit schief gehaltenem Kopf, als ob er sich so besser konzentrieren könnte, den deutschen Gesprächen zu. Selma hatte den Entschluß gefaßt, auf eine landwirtschaftliche Hochschule zu gehen. Sie wollte Bäuerin werden, was immer das bedeutete. Und schon im Eingangsgespräch, als sie sich bei einer Hochschule bewarb, machte man ihr klar: Sie haben keinen Hof im Hintergrund. (Mit anderen Worten: Sie sind keine geborene
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