Landgericht
(Oder sprach er „recht“ im Sinne von „richtig“? Das was eine rechtsphilosophische Diskussion, zu der er aber jetzt nicht Stellung nehmen konnte.) Es war zu viel zu tun, die Prozesse häuften sich. Richard und Claire sprachen am Abend, wenn Cilly schlief, wenn Georg seine letzte Nachtmahlzeit aufgenuckelt hatte, darüber, was denn werden sollte, und was die veränderte politische Lage für die Prowerb und für das Richteramt bedeuten könnte, aber sie wollten sich auch nicht über die Maßen erregen. Nicht verrückt machen lassen! Das war eine Devise, die wie ein Schild über der eleganten Wohnungstür in der Cicerostraße hing. Man mußte abwarten, im Zweifelsfall würde nichts so heiß gegessen wie gekocht. Ja, es gab Angst, Unwägbarkeit. Aber sollte man dem Instinkt nachgeben oder der Vernunft? Die Angst war ängstlich, natürlich, die Vernunft weitblickend, so schien es. Die Vernunft vertraute darauf, daß die Angst nicht überhandnehmen mußte, durfte.
Manchmal träumte Claire von einer weißen, unbespielten Leinwand. Der Projektor lief summend und röhrend und war, wie es sich gehörte, auf die Leinwand gerichtet. Sie spürte die Aufregung, die sie jedes Mal überfiel, wenn sie stehend am Rand des Kinosaals die Werbung kontrollierte, aber es gab in diesem Traum keinen Film, es gab nur den kalten, gebündelten Lichtstrahl, das Spulen des Streifens. Sie wachte dann erschreckt auf und schwor sich, noch sehr, sehr viel häufiger ins Universum zu gehen. Gegen schlechte Träume half nur die Kontrolle der Wirklichkeit. Es würde nichts geschehen, was der Prowerb und ihrer Tätigkeit schädlich wäre. Claire paßte auf, sie war eine Geschäftsführerin nicht nur dem Namen nach, sie führte ihre Firma an einem strikten Zügel.
Claire schlüpfte aus dem Woga-Haus spätabends ins Universum, sie wollte die Wochenschau sehen, die sie am frühen Abend versäumt hatte, sie beschwatzte den Filmvorführer, der gerade den eben gezeigten Film zurückspulte, ja er hatte die Wochenschau auch nicht wirklich sehen können, nun saß sie allein in einem ziegelroten piekfeinen Samtsesselchen, ganz allein mit dem Filmvorführer in dem riesigen Kino, und es brüllte und wallte in ihren Ohren, der Filmvorführer sah sie an, sie sah ihn an, und sie fror, fror. Sie hatte keine Worte für den Filmvorführer, und er nicht für sie, aber das besagte nichts, sie waren ja Kinoleute, ein Blick genügte, der Kinovorführer sah ihr Gesicht wie in einer Großaufnahme, ihr aufgerissenes, entsetztes Gesicht, und sie sah seines, verfinstert, in sich gekehrt. Und wären sie Schauspieler gewesen, hätte eine Kamera ihren Blickwechsel eingefangen, sie hätte nicht nur die Not, das Entsetzen eingefangen, sondern auch etwas Brillantes, eine Blickbewegung, eine Beziehung, die vollkommen uneinstudiert wirkte (und es ja auch war), ein „Was nun“. Etwas Abgründiges zwischen zwei Menschen, die sich nicht kannten und doch in diesem Augenblick im leeren, riesigen Kinoraum kennenlernten. Und wäre noch ein Drehbuch-Autor dazugestoßen in dieser unheimlichen Situation, er hätte die Szene mit dem Film-Vorführer, einem zierlichen, glattrasierten Mann, der wirkte wie ein abgebrochener Philosophiestudent, der sich ins Kino verliebt hatte, und der tüchtigen Geschäftsfrau, die das Kino als ein Transportmittel der Werbung entdeckt und zu nutzen gelernt hatte, filmisch ausbauen können. Er hätte Blicke gepaart und er hätte sie beide als Gegner des neuen Regimes kennzeichnen müssen. Filmvorführer und Geschäftsführerin betrachten den Führer auf der Leinwand. Hätte er einen Dialog gebraucht? Das wäre schon zu viel gewesen. Am besten, seine Protagonisten hätten sich vor der schnurrenden Kamera „erkannt“. Das wäre das Beste für den Drehbuch-Autor gewesen, er hätte sich selbst keiner Gefährdung, nicht der Zensur ausgesetzt. Die Blicke hätten gesprochen, hätten eindeutig gesprochen. Aber wäre diese Sprache noch verstanden worden? Das war die Frage. Es gab keine Möglichkeit des Rückfalls in den Stummfilm.
So war die neue Kunstform nicht gedacht. Der Tonfilm konnte leise sein, ein Hauch, ein Seufzen, ein Atmen im Raum, ein Bogenstrich auf einer Saite, aber gleichzeitig mit ihm fing das Brüllen an, das Schreien, die exaltierte, outrierte Stimme überschlug sich, dafür gab es kein Beispiel. Kaum hatte der Tonfilm begonnen mit seinen feinen technischen Möglichkeiten, kapitulierte er schon. Dem Brüllen, dem Schreien, dem Wochenschauwehen war
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