Landgericht
daß ihm in diesem speziellen Fall die Beobachtung des Instanzenweges nicht ganz angebracht erscheine, und habe gebeten, seinen Telephonapparat benutzen zu dürfen. Der Amtsgerichtsdirektor gestattete dies. Er habe das Überfallkommando des benachbarten Polizeipräsidiums angerufen und den Bescheid erhalten: Zwanzig Polizisten seien bereits in Richtung des Gerichtsgebäudes unterwegs. Dann habe er sie gesehen: Zwanzig Mann, die im Gänsemarsch über die Straße gekommen seien, und zwar in denkbar gemächlichem Schritt. Sofort habe er begriffen, daß der neue Polizeipräsident Heines zu den Arrangeuren des Pogroms gehörte. Er hatte dafür gesorgt, daß seine Männer nicht zu zeitig eintrafen. Am Nachmittag desselben Tages, berichtete Foerder in nüchternen Worten weiter, hätten sich die Richter im Gebäude des Oberlandesgerichts versammelt und beschlossen, für sämtliche Gerichte der Stadt Breslau ein Justitium, einen Stillstand der Rechtspflege, eintreten zu lassen. Es sei bekanntgegeben worden, daß für eine gewisse Zeit keine Gerichtsverhandlungen stattfinden und somit der Lauf wichtiger gesetzlicher Fristen gehemmt oder unterbrochen werde. Mit anderen Worten: Die Richter streikten. Wäre dieses Verfahren an all den anderen Gerichten, in denen sich unwürdige Szenen abspielten, angewandt worden, wer weiß, sagte Foerder, vielleicht wäre etwas (aber was wirklich?) verhindert worden. Viel Glück, Herr Kollege, sagte Foerder noch, viel Glück, und Kornitzer spürte, daß dieser den Hörer noch ein wenig in der Hand hielt, um eine Antwort oder zumindest ein Dankeschön abzuwarten, das nicht mehr eintraf, bevor er leise auflegte.
Der 1. April 1933 war der Stichtag. Boykottposten standen an den Eingängen der Gerichte. Der Reichskommissar für das preußische Justizministerium, Kerrl, hatte die nationalsozialistischen Justizbeamten angewiesen, darauf zu achten, daß kein jüdischer Richter, keine Geschworenen oder Schöffen erscheinen. Auch den jüdischen Anwälten, die die Gerichte betreten wollten, um Termine wahrzunehmen, wurde der Eintritt verwehrt. Bei den Terminen, zu denen trotzdem jüdische Anwälte schon vor der Absperrung erschienen waren, wurde die Vertagung herbeigeführt. Das war das Ende. Kornitzer sagte kaum etwas dazu, Claire mußte das Geschehen aus ihm herausfragen, herauswringen, und als er endlich sprach, gelang es ihr nicht, ihn zu trösten, so umfassend war seine Verstörung. Schlag auf Schlag wurden nach den Rechtsanwälten auch die Notare aus ihren Ämtern entfernt. An eine Weiterarbeit im Berufsumfeld eines Juristen war nicht mehr zu denken.
Am 6. April hielt Erich Mendelsohn in Brüssel eine flammende Rede. Er hielt sie nur wenige Tage, nachdem er geflüchtet war und sich in Amsterdam niedergelassen hatte. Er sprach nicht über Architektur, er sprach über Arier und Juden, über Deutschland, über die Liebe zum Land und seine Zerstörung von innen heraus.
Die Geburt und Entwicklung der nationalsozialistischen Partei ist kein Wunder, sondern eher das logische Ergebnis des Verlustes an moralischer Balance in Deutschland
. Das hörte in Deutschland niemand mehr, das wollte niemand mehr hören. Claire und Richard Kornitzer hätten ihn gerne gehört, in Brüssel, in Amsterdam oder in England, wo er dann mit Serge Chermayeff ein Architekturbüro gründete, aber sie waren abgeschnitten von dieser Stunde an, fortan.
Tage wie mit dem Rasiermesser geritzt, Tage der brüllenden Leere. Der Entwurf zum „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ wurde in der Kabinettsitzung am Nachmittag des 7. April von Wilhelm Frick, dem Innenminister, vorgetragen und ohne nennenswerte Diskussion oder gar einen Einwand angenommen und noch am selben Tag im Reichsgesetzblatt veröffentlicht. Das Gesetz bot ein differenziertes Instrumentarium, um Juden aus dem Staatsdienst zu entfernen. Einerseits hieß der Absatz 1 des Paragraphen 3:
Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen; soweit es sich um Ehrenbeamte handelt, sind sie aus dem Amtsverhältnis zu entlassen
. Aber schon der zweite Absatz behandelte Sonderfälle, die sogenannten Altbeamten, die bereits im Kaiserreich Beamte gewesen waren, und Kriegsteilnehmer im Fronteinsatz, beide Gruppen durften im Amt bleiben. Hindenburg hatte sich nachdrücklich für sie eingesetzt, nach Hindenburgs Tod verloren sie ihren Schutz. Schon vorher wurde Druck ausgeübt, daß diese Beamten
freiwillig
aus dem Dienst ausschieden. Wer das
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