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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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sie hat Sehnsucht geweckt. Sie ist eine Projektion, wie die Filmleinwand als solche eine Projektion aufnimmt und widerspiegelt. Sie sieht den Sehnsüchtigen nicht an, den infantil und inflationär Sehnsüchtigen. Sähe sie ihn an, sie müßte ihn mitleidig ansehen, aber er hat doch eine Kinokarte erworben, er bezahlt s i e, und sich dies vor Augen zu führen in aller Drastik, wäre doch eine Peinlichkeit. Wenn der Kinozuschauer nicht weiß, daß er eine Massenerscheinung ist, die die Einzelne, die Einzige in Bann schlägt, nun ja, dann hat er das neue Medium, den suggestiven Film, noch nicht verstanden. (Und dies ist der letzte Stummfilm, nun ist es zu spät zum Verstehenlernen.) Der Blick der Schauspielerin trifft ihn ins Mark, wie ein Ruf, wie ein Schicksal. Du mußt dein Leben ändern. Aber das Kinogehen hat dein Leben schon geändert, wenn du das Kino-Universum verläßt, stehst du auf der Straße mit deiner unbestimmten Sehnsucht. Die Frau, nach der man sich sehnt, ist nur im Kino, und der Zuschauer, der den geraden, den gefährlichen Weg der Liebe geht, der das Leben wagt und die Liebe hopp nimmt in einer leidenschaftliche Gesten, weiß nichts, erfährt nichts und leidet. Ob die Frau, nach der er sich sehnt, Hingabe spielt oder seine Projektion ist, er weiß es nicht. Er weiß auch nicht viel über seine eigenen Gefühle, die Bilder strudeln darüber hinweg. Er ist allein in der Menge der Kinogänger, jeder, der sich sehnt, ist allein. Er hat die Gewißheit verloren, als Mensch an eine Wirklichkeit gebunden zu sein. Der Schein, die sprachlose Wirklichkeit, die wortlose Verführung zum Sehnen legt sein Empfindungsvermögen lahm. Oft sieht Marlene Dietrich ganz unbeteiligt aus, als ginge alles, was rund um sie und ihretwegen geschieht, sie gar nichts an. Das ist die Sehnsucht, das ist der Leerlauf, ein auf sie gerichtetes Geschoß bleibt stehen in der flirrenden Luft, sie taucht in das Geschehen, taucht in einen Tod, als wäre er ein Elixier. Sie badet darin, eine Nixe in einem dunklen Gewässer. Und wer sie sieht, sieht nur das Rätsel und die Bedingungslosigkeit, sich im Rätsel aufzulösen und zu zersetzen. Die Frau, nach der man sich sehnt, ist eine sprachlose, eine stumme Erschütterung.
    Dann kam der Tonfilm, und auf den Straßen fing das Brüllen an. Es wurde demonstriert, marschiert. Wer nicht einverstanden war mit dem Brüllen auf den Straßen, den Aufmärschen, zog sich hinter die Gardine zurück, schwieg, schwieg indigniert. (Oder saß auf gepackten Koffern, um das Land sofort zu verlassen im Falle, daß.) Er würde vorübergehen, der Spuk. Die Gegner des Brüllens mußten selbst brüllen, damit sie gehört wurden. Das verzerrte die Züge. Der Tonfilm dagegen hatte natürliche Feinde, die Artisten-Loge und den Deutschen Musikerverband. Vom Ku’damm brachte Claire ein Flugblatt mit, das ihr in die Hand gedrückt worden war, zu Hause studierte sie es sorgfältig.
    Gegen den Tonfilm!
    Für lebende Künstler!
    An das Publikum!
    (Alles war fett unterstrichen, überdeutlich.)
    Achtung! Gefahren des Tonfilms!
    Viele Kinos müssen wegen der Einführung des Tonfilms und dem Mangel an vielseitigen Programmen schließen!
    Tonfilm ist Kitsch!
    Wer Kunst und Künstler liebt, lehnt den Tonfilm ab!
    Tonfilm ist Einseitigkeit! 100 % Tonfilm = 100 % Verflachung
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    Tonfilm ist wirtschaftlicher und geistiger Mord!
    Seine Konservenbüchsen-Apparatur klingt kellerhaft, quietscht, verdirbt das Gehör und ruiniert die Existenzen der Musiker und Artisten! Tonfilm ist schlecht konserviertes Theater bei erhöhten Preisen!
    Darum: Fordert gute stumme Filme!
 Fordert Orchesterbegleitung durch Musiker!
 Fordert Bühnenschau durch Artisten!
    Lehnt den Tonfilm ab! Wo kein Kino mit Musikern oder Bühnenschau ist: Besucht die Varietés!
    Claire konnte darüber nur den Kopf schütteln. Pfründe, Besitzstandswahrung, und sie wollte sich schon selbst in lauter Ausrufezeichen erregen. Als gäbe es ein Naturrecht, vor dem Film und zur Begleitung des Films zu fiedeln, zu blasen und zu klimpern. Als wäre die Sprache, als wären Geräusche nichts, nur die künstlich erzeugten Töne auf Instrumenten, die sich quirlend als künstlerische Töne aufspielten, hätten eine Geltung vor den natürlich erzeugten, dem Räuspern, dem Ausatmen, dem girrenden Lachen, den unbekannten, verstörenden Schritten auf dem Asphalt. Als hätten Artisten, Vogelfänger, Schlangenbeschwörer, Aus-dem-Hut-Zauberer und Musiker das Gehör zum eigenen Gewinn

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