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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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früh oder – wenn der ihm unsympathische Rechtsanwalt schlau und überlang plädierte – erst am Mittag ein Urteil fällen mußte, und warf sich vor, zu lang gezögert zu haben, das Mädchen und auch Richard, der ja zuhause war und Akten studierte, nicht instruiert zu haben, dem kränkelnden Kind jede halbe Stunde eine prüfende Hand auf die Stirn zu legen, ein Gefühl zu entwickeln für eine Wärme, die sich zu einer ungewöhnlichen Hitze entfalten könnte, eine Empfindlichkeit, die im Zweifelsfall, wenn das Kind wirklich krank würde, auf die Mutter zurückfiele, nicht auf Cilly, die einen solchen Überblick noch nicht hatte, oder den Vater, von dem man eine so schlichte Geste des Handauflegens auf eine heiße (oder nur wärmer werdende) kleine Stirn gar nicht erwartete. Der Vater war für besondere Tätigkeiten zuständig, und das Kindermädchen war nicht zuständig. Hätte Cilly in der Abwesenheit der Eltern am Nachmittag einen Kinderarzt zu Georg gerufen, wäre das zweifellos eine Kompetenzüberschreitung gewesen, die Claire und Richard Kornitzer vielleicht gar nicht zuwider war, aber man hätte es immer wieder sorgsam mit Cilly besprechen müssen. Georg krähte ihren Namen fordernd wie eine Art von täglichem, stündlichem Kikeriki – Cilly hier und Cilly dort, er brauchte sie, forderte sie, und sie war dem kleinen bürgerlichen Prinzen als ein Mädchen vom Land, das mit Butter und Honig und Wiesenkräutern persönlich verwandt zu sein schien, zu Diensten. Ging Cilly auch ins Kino? Das wußte Claire nicht, und sie hätte es auch als Übergriff empfunden zu fragen, was Cilly an den freien Abenden unternahm. Sie war frei, „frei, sich nicht selbst zu schädigen“, Richard Kornitzer hatte es so vornehm bei ihrem ersten Ausgang ausgedrückt, und Claire und Richard Kornitzer, die ihr einen „schönen Abend“ wünschten, hatten gehofft, daß sie den geheimen Sinn dieser Formel (und auch die Sorge der Arbeitgeber, die darin verborgen war) verstand. Und so rief Claire wirklich spät in der Nacht aus eigenem Entschluß aufgeregt den Kinderarzt an, der sie auf den nächsten Morgen vertröstete. Da ging es Georg schon viel besser. Es war wie eine Welle der Erregung gewesen: Sie hatte am vorigen Morgen sein Unwohlsein nicht bemerkt, sie fühlte sich überhaupt eher nachlässig als Mutter. Insgeheim hatte sie ihrem Mann und dem Mädchen schwere Vorwürfe gemacht, Georgs aufflammendes Fieber übersehen zu haben – wie sie es auch vermutlich nicht bemerkt hätte, wäre sie an diesem Abend zuhause gewesen –, also waren die Vorwürfe in den Wind geschrieben, und das verschwitzte, erhitzte Kind, das sie am Morgen fest in ihre Arme schloß, schien keine Erinnerung an die schwere Nacht zu haben, in der niemand es aufnahm, herumtrug und kühlte, im Gegenteil: es war gnädig und freundlich, als hätte es in einer Spalte des Gedächtnisses einen Erinnerungsfetzen, daß es die Hitze, das Fieber selbsttätig abgeschüttelt hatte, Gott – oder wer immer ihn vertrat an dieser Stelle in der Nähe des Kinos – wußte wie. Und Claire gelang es, sich zu beruhigen, indem sie sich ein bißchen von ihrem kleinen Sohn, ihrem Mann und auch Cilly fernhielt. Sie stürzte sich in die Arbeit, berechnete die Kosten für einen neuen Werbefilm. Es war ihre ganz persönliche Beruhigung, mochten sich Richard und Cilly ihre eigenen Gedanken machen.
    Einer der letzten Stummfilme, die die Filmgesellschaft Terra gebracht hatte, war zum Niederknien, aber wer kniet schon, wenn er sehen, aufsaugen möchte. Er schob eine Schauspielerin in den Mittelpunkt, einen Augenaufschlag, einen Atem, eine Gewißheit: Dies ist zweifellos eine Frau, nach der man sich sehnt. Und Marlene Dietrich war diese Frau, sie verkörperte sie nicht nur, sie suggerierte, sie sei als Objekt der Sehnsucht greifbar, fühlbar, verfügbar, und sie sehnte sich auch von der Leinwand herunter nach diesem, ja genau nach diesem Zuschauer im Publikum. Und jeder glaubte, dieser eine zu sein am Beginn und am Ende einer Massenpsychose, die nicht mehr eine Frau betraf, sondern universell geworden war, eine Führergestalt suchte, jemanden herbeisehnte, der alles gut machte, was schlecht war und beleidigend und kränkend. Die Frau allerdings, die hinter Rauchdunst und einem Waggonfenster als das Inbild einer Reisenden, einer Flüchtigen erscheint, schaut ins Unbestimmte. Sie staunt darüber, was sie anrichtet, sie hat doch nichts getan, sie hat sich ausgestellt, sie hat sich ausstellen lassen,

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