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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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gepachtet und wollten es dann als unerläßliche Beigabe zu den Filmen verschachern. Ja, es stimmte, Tausende von Musikern wurden gefeuert. Aber auch Bankangestellte, Stenotypistinnen, Fräser und Ingenieure wurden gefeuert, das war die Krise, das waren die Auswirkungen des Börsenkrachs, als alle internationalen Kredite an das Deutsche Reich gekündigt wurden. Auch kleine Kinos, die sich die Umrüstung auf den Tonfilm nicht leisten konnten, mußten schließen. Möglicherweise versetzte der neue Tonfilm dem Stummfilm den Todesstoß. Claire dachte auch: Das wird sich weisen. Und sie dachte auch: Kommt Zeit, kommt Rat. Vielleicht dachte sie zu viel oder nicht zielgerichtet genug. Im Advent 1932 hatten auf den Bürgersteigen des Tauentzien Bettler und Hausierer eine enge Gasse gebildet. Aufdringlich und vorwurfsvoll rappelten sie mit Streichholzschachteln, die sie verkaufen wollten. Sie boten Nähnadelbriefchen, Pflaster und Putzlumpen an, spielten Schifferklavier und entlockten gefährlich blinkenden Sägeblättern jaulende Töne. Die enge Gasse machte Angst, selbst dort einmal zu stehen, sich aufzureihen in der Elendsprozession, aber auch Angst, im Unvermeidlichen eine starke Rolle, eine unvermeidliche Rolle zu spielen: die des Opfers. Auf diese Rolle konnte man sich in aller Sorgfalt vorbereiten, wenn die Zeit kam, und sie kam unerbittlich, eine Ordnungsmacht, der ein Einzelner, eine Einzelne kaum gewachsen waren. Zu viel der Abhaltungen, der Verrichtungen, das Gehör übernahm, und die sehenden Augen wandten sich ab.
    Der Film hatte Nerven und Phantasie bekommen, der Ton konnte die Kamera ins Unrecht stürzen oder sie unterstützen. Der Tonfilm entdeckte die Stimme der Dinge, das Getöse einer Fabrik und das monotone Rinnen des Herbstregens. Aber der Tonfilm mußte auch das Schweigen lernen, das dramatische Schweigen, wenn alles gesagt war, Musik kam, und Musik verstummte, plötzlich war die Stille ein wichtiges Ausdrucksmittel geworden, die Stille und das Schweigen markierten extreme Gefühle, es war ein Lernprogramm ganz neuer Art.
    In der Werbung war es anders: Es war wirksamer, den Namen einer Firma auszusprechen (mit welcher Stimme, welchem Timbre der Stimme, mit welcher Gewißheit?) als nur den Schriftzug abzufilmen. Das Bild stockte, stand still und machte den steifen Buchstaben Platz. Jetzt, im neuen Tonfilm, konnte eine Stimme den Firmennamen interpretieren, ihn sich auf der Zunge zergehen lassen oder dramatisch hinausposaunen, was das Simpelste war. Am besten schien es Claire, wenn die Worte leicht, schnell und zwanglos gesprochen wurden, damit sie sich den Schnitten von Sprecher zu Sprecher anpassen konnten. Bild und Ton wurden ein organisches Ganzes. Der Ton war ein Protest gegen das Lesen der Schriftzüge, die die Stummfilmbilder erklärten. Claire war auf der Seite der Neuerung, nicht bedingungslos auf der Seite jeder Neuerung, aber doch immerhin. Sie konnte sich einen Werbefilm vorstellen mit sprechenden, blank geputzten Schuhen, tanzenden Schuhen und einer Schuhcremedose, die eine Spieldose war, aber sie konnte sich noch nicht wirklich vorstellen, ob sie den Werbechef der Schuhcreme-Firma von ihrer Filmidee überzeugen könnte. Alles andere wäre Selbstüberschätzung. Man hatte so etwas noch nicht gesehen. Wollte das Publikum so etwas sehen?
    Sie reiste im Reich herum, um ihre Firma und die Werbefilme vorzustellen oder um Aufträge zu akquirieren, traf Reklamefachleute, und es war ihr unfaßbar, daß ihr freundliche, gebildete Männer, die in irgendwelchen Konsortien saßen, von Zeit zu Zeit die ganz ungeschützte Frage stellten: Frau Kornitzer, was muß man machen, um in Berlin Erfolg zu haben? Sie hatte schon eine Vorstellung, warum das in dem einen Fall gelang und in einem anderen Fall nicht, aber das war nicht einfach so zu erklären. (Jedenfalls nicht geradeheraus in ein erfolgsversessenes Gesicht, das auch erstarrte und die Verbindung verlor zu weicheren, ungeprägteren Gesichtern, mit denen wiederum kein Staat zu machen war.) Es war doch mit Händen zu greifen, sie, Claire, hatte es begriffen, die Zeit war so, und alle, die solche unsicheren Fragen stellten, drifteten im unsicheren Raum. Man mußte Kommunist sein oder Nationalsozialist, dann wußte man Bescheid. Man wußte Bescheid, wenn man sich längst entschieden hatte. Aber der Werbefilm war schillernd vielschichtig, und das Recht, das Richard Kornitzer studiert hatte und das er jetzt verkörperte, war es nicht. Ja „er sprach Recht“.

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