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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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er nicht gewachsen, er reihte sich ein in die Gratulanten zur Gleichschaltung, und Claire sah schweigend zu. Wie sie die Arme verschränkte, wie sie zum Filmvorführer schaute und er zu ihr im riesigen, halbdunklen Kino, darüber gab es keine Worte, keine Bilder, aber eine Wahrnehmung, eine Empfindsamkeit, als hätten sie, Claire, Richard, der Filmvorführer und der kleine Georg mit seinem Kindermädchen Cilly in einer anderen Zeit in einem Zeitspalt gesessen wie in einer sachten Höhle und hätten auf eine andere Witterung gewartet, die dann doch nicht eintraf, aber jederzeit hätte eintreffen können, zum allgemeinen Erstaunen.
    Georg hatte zu Weihnachten ein hölzernes Feuerwehrauto bekommen, das er am liebsten überhaupt nicht mehr aus der Hand gegeben hätte. Er ließ es rollen auf der Oberfläche der Möbel, über die Wand neben der Küchentür und auf dem Arm des geduldigen Kindermädchens. Dabei trompetete er sein Tatütata mit stoischem Gleichmut. Auch mit gutem Zureden ließ er sich nicht davon abbringen. Er hatte zu tun und wurde nicht müde bei seinem konzentrierten Spiel, man mußte ihn, wenn man ihm ein Butterbrot servierte, daran hindern, das Feuerwehrauto über das Brot rollen zu lassen.
    Als Richard Kornitzer sein Richteramt verlor und in einen sogenannten
Ruhestand
versetzt wurde, geriet er in eine Art Schockstarre. Er räumte die juristischen Zeitschriften auf seinem Schreibtisch hin und her, stapelte sie ordentlich, las darin, und die Worte drangen nicht wirklich zu ihm. Claire hatte das Gefühl, er sehe durch sie hindurch, das tat ihr weh. Sie sah, wie er litt, und sagte: Ich verdiene doch gut, so wird es gehen, einigermaßen, aber er ging darauf nicht ein. Er telephonierte mit einem befreundeten Rechtsanwalt in Breslau, Ludwig Foerder, der sagte ihm, zwei Wochen vor dem Inkrafttreten des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ sei er an einem Samstagmorgen nach dem Synagogenbesuch ins Amtsgericht gegangen. Plötzlich ertönte auf dem Korridor ein Gebrüll wie von wilden Tieren. Die Tür des Anwaltszimmers flog auf. Herein stürzten zwei Dutzend SA-Männer in ihren braunen Blusen und Kappen und schrien: Juden raus! Einen Augenblick seien alle im Zimmer, Juden wie Christen, gelähmt gewesen. Dann verließen die meisten jüdischen Anwälte das Zimmer. Der über 70jährige Justizrat Siegmund Cohn, ein langjähriges Mitglied des Vorstandes der Anwaltskammer, habe vor Schreck wie angenagelt auf seinem Stuhl gesessen, unfähig, sich zu erheben. Ein paar Mitglieder der Horde stürzten auf ihn zu. Einige jüngere Anwälte, darunter auch Mitglieder des deutsch-nationalen Stahlhelms, stellten sich schützend vor ihn. Das habe die Eindringlinge bewogen, von ihm abzulassen. Ein SA-Mann sei auf ihn, Ludwig Foerder, zugesprungen und habe ihn am Arm gepackt. Er schüttelte ihn ab, darauf zog der SA-Mann sogleich aus dem rechten Ärmel seiner Bluse ein metallenes Futteral, das auf einen Druck eine Spirale hervorspringen ließ. An deren Ende war eine Bleikugel befestigt. So ein Ding hatte Foerder noch nie gesehen. Mit diesem Instrument habe er ihm zwei Schläge auf den Kopf versetzt, die Blutergüsse schwollen sofort an. Richter, Rechtsanwälte und Staatsanwälte, die meisten noch in ihrer Amtsrobe, seien von den SA-Leuten auf die Straße getrieben worden. Überall hätten die braunen Horden die Türen der Verhandlungszimmer aufgerissen und: Juden raus! gebrüllt. Ein geistesgegenwärtiger Assessor, der gerade eine Sitzung abhielt, schrie zurück: Macht, daß ihr rauskommt! Darauf reagierten sie und zogen ab. In einem anderen Zimmer saß ganz allein ein jüdischer Referendar. Zwei Hooligans schrien ihn an: Sind hier Juden? Er gab seelenruhig zur Antwort: Ich sehe keinen. Da warfen sie die Tür zu und zogen weiter.
    Er, Foerder, sei in das Zimmer des Aufsichtsrichters des Amtsgerichts gerannt, um Hilfe zu holen. Der 64jährige Amtsgerichtsdirektor, ein alter Hauptmann der Landwehr, der ihm seit zwanzig Jahren bekannt war als ein aufrechter Mann, saß ziemlich bleich in seinem Lehnstuhl. Foerder habe ihn gefragt, welche Maßnahmen er zu treffen gedenke, um diesem unerhörten Ereignis ein Ende zu machen. Der Amtsgerichtsdirektor erwiderte, er habe bereits mit dem stellvertretenden Landgerichts-Präsidenten telephoniert. Dieser habe ihm versprochen, daß er sich mit dem Präsidenten des Oberlandesgerichts in Verbindung setzen werde. Foerder berichtete Kornitzer, er habe sich den Einwand erlaubt,

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