Landkarten des Lebens
mehr. In diesem Wald konnte ich meiner Verzweiflung und meinem Kummer freien Lauf lassen. Dort weinte ich und schrie – ich schrie Gott an, weil ich unendlich wütend auf ihn war. Warum ließ er Bettina so leiden? Warum mutete er mir zu, schon wieder jemanden zu verlieren?
Heute weiß ich: Mein Glaube damals war kein echter Gottesglaube. Meine Ansprüche an Gott hatten etwas Fatalistisches. Ich war zwar religiös, hatte aber den wahren Glauben, den echten Gott noch nicht entdeckt. Als Bettina dann kurze Zeit später gestorben war, brach für mich nicht nur eine Welt zusammen, sondern auch das, was ich bis dahin für meinen Glauben gehalten hatte. Meine Beziehung zu Gott war zerstört – für immer. So fühlte es sich damals zumindest an. Ich saß in einem wirklich tiefen Tal meines Lebens. In den Wochen und Monaten danach führte ich viele Gespräche, mit Therapeuten, mit Freunden – und mit einem katholischen Priester, den ich während eines Kuraufenthaltes kennenlernte. Er war dort seelsorgerisch für die Patienten tätig, und trotz des Nebels aus Schmerzen und Kummer, der mich immer noch umgab, nahm ich doch eines wahr: Dieser Priester war ganz und gar unreligiös. Er trat überhaupt nicht wie ein Priester auf. Eines Abends fragte ich ihn, ob ich ihn unter vier Augen sprechen könne, und so verabredeten wir uns. In den Gesprächen mit ihm fühlte ich mich das erste Mal seit Bettinas Tod wieder am richtigen Platz. Ihm konnte ich sagen, wie wütend ich auf Gott war – und wie sehr ich mich für diese Wut schämte, wie sie mich innerlich zerfraß, diese Wut. Dem Priester gelang es, mich von dieser Scham zu befreien. Er sagte zu mir: „Du kannst Gott anklagen, so oft du willst. Du darfst so wütend auf ihn sein, wie es dir passt. Ihm macht das nichts aus. Das Einzige, was zählt, ist, dass du dabei du selbst bleibst. Dass du authentisch bist.“
Und so langsam dämmerte es mir: Ich war ein religiöser Mensch, der seinen Glauben als Religion lebte. Der dachte, dass man sonntags in die Kirche gehen und beten muss, damit einem nichts Schlimmes zustößt. In der Zeit nach Bettinas Tod und vor allem in den Gesprächen mit diesem Priester erkannte ich jedoch: Religiöse Formeln tragen uns nicht durchs Leben. Es kommt viel mehr darauf an, auf das eigene Herz zu hören und hinsichtlich der eigenen Emotionen ehrlich zu sich selbst und zu Gott zu sein. Gott will Menschen, die mit ehrlichem Herzen an ihn glauben. Religion hat für mich viel mit Theaterspielen zu tun. Wir „spielen“ ein Tischgebet – senken den Kopf und tun so, als ob wir ein Tischgebet sprechen. Weil wir der Form genügen wollen oder denken, dass andere das von uns erwarten. Dabei begegnen wir Gott nicht nur in der Kirche oder während des Tischgebets, sondern immer und überall. In einem Wald oder in einem Ballon.
In der schlimmsten Krise, im tiefsten Tal meines Lebens habe ich es geschafft, mich vom religiösen, formelhaften Glauben meiner Kinderzeit zu lösen. Meine Lebenskrise war gleichzeitig auch eine Glaubenskrise. Aus dieser Krise entstand jedoch etwas Gutes: meine lebendige Beziehung zu Gott, die mich heute trägt. Ich weiß und spüre jetzt, dass Gott an einem ehrlichen, emotionalen Dialog interessiert ist – jenseits von rituellen Gebetszeiten. Ich bete zu Gott, wann immer ich das Be dürfnis dazu habe. Und wo auch immer ich das Bedürfnis dazu verspüre. Das kann im Auto sein, auf der Fahrt zu einem Kunden oder zu einem schwierigen Gespräch, am Abend, am Morgen – eben immer dann, wenn ich innehalten will, wenn ich nicht mehr weiterweiß, wenn ich still werden will im Alltag. Das kann 30 Sekunden dauern, drei Minuten oder 30. Ganz egal. Gott ist in allem. Und das sehe ich besonders deutlich, wenn ich innehalte und mir einen Überblick verschaffe – so wie im Heißluftballon an jenem Spätsommermorgen vor ein paar Jahren. Ein Perspektivwechsel hilft mir immer wieder, Orientierung zu finden. Aus diesem Grund brauchen wir Höhepunkte in unserem Leben. Sie verschaffen uns andere Einsichten. Um das zu erkennen, musste ich aber erst in die tiefsten Tiefen meines Lebens hinabsteigen und meine Lehren daraus ziehen. Das war nicht einfach. Das tat sehr weh. Aber ohne diese Erfahrung wäre ich heute nicht der, der ich bin.
Krisen sind Leben
Die Tiefen und Höhen des Lebens und die heilende Kraft des Glaubens – wo könnten sie schöner ausgedrückt und symbolisiert sein als in Rio de Janeiro? Die von Bergen und Buchten gleichermaßen geprägte
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