Landkarten des Lebens
Schwimmflügel – man kann sie sicherlich permanent unter Wasser drücken. Aber das kostet viel Kraft. Das geht jedoch einfacher, wenn man zunächst die Luft rauslässt. Auch ein Ballon kann nur landen, wenn seine Hülle leer ist. Manchmal muss man im Leben landen, die Luft aus etwas lassen, ein Trauma, eine Lebenskrise genau anschauen, um weiterleben zu können. Und um wieder einen Höhepunkt ansteuern zu können. Fragen Sie mal Mose, der wusste das auch.
Gundula Gause
Über Berg und Tal
Dass nach jedem Auf ein Ab, nach jedem Berg ein Tal und nach jedem Höhepunkt ein Niedergang kommt, ist eine Binsenwahrheit. Aber so ist es. Und ist es nicht ein Glück, dass in dem – zwar durch die Schuldenkrise angeschlagenen, sich aber doch noch stabil zeigenden – Europa immer noch ein Leben in relativer Sicherheit möglich ist? Natürlich gibt es die großen Auf-und-Ab-Entwicklungen auf politischer Ebene, die die Koordinaten unserer Gesellschaft bestimmen. Die Lebensrealität der Einzelnen aber spielt sich maßgeblich in ihrem persönlichen Umfeld ab – und alles Persönliche aus dem nahen familiären und beruflichen Umfeld hat für meine Begriffe eine eigene, besondere Relevanz.
Im Frühjahr des Jahres 2010 wurde meine Mutter sehr krank. Es dauerte Monate, bis wir nach vielen mühsamen Arztterminen, Diagnosen und Gesprächen erkennen und annehmen mussten, dass es eine schwere und wohl seltene Krebserkrankung war. Ab einem bestimmten Punkt war klar, dass die Entwicklung nicht mehr aufzuhalten war. Die Hoffnung auf Heilung schwand schnell, viel schneller, als man es in einer solch unvorhersehbaren Situation annehmen kann. Gemeinsam haben wir aber alles versucht, was möglich war – wie wohl jeder, dem dieses Schicksal widerfährt, alles Mögliche unternimmt – gegen alle Rationalität und Realität.
Im September fuhren wir zu einem befreundeten Onkologen nach Zürich, um Rat zu holen. Meine Mutter war schon ziemlich schwach und es ging ihr sehr schlecht. Vor der Abfahrt fragte sie mich: „Meinst du, das hat überhaupt noch Sinn? Ich glaube, ich schaffe das nicht.“ Aber ich wollte mich nicht abbringen lassen.
Mit unserem alten Volvo fuhren wir von Mainz durch die Rheinebene, an Karlsruhe vorbei nach Basel und weiter durch die Alpen, 430 Kilometer, etwa fünf Stunden dauerte die Fahrt. In Zürich verbrachten wir drei Tage – hatten in dieser Ausnahmesituation noch mal Zeit miteinander. Es war die letzte Reise ihres Lebens. Uns beiden war das klar.
Wir haben die Tage genutzt, um Abschied zu nehmen, einerseits. Andererseits haben wir versucht zu tun, was möglich war: Wir führten Gespräche mit dem Onkologen, der uns Mut machte, es mit einer sanften Chemotherapie doch zu versuchen. Wir gingen aber auch in Restaurants, trafen unseren ältesten Sohn (aus der ersten Ehe meines Mannes), der in Zürich an der ETH eine Famulatur im Rahmen seines Medizinstudiums absolvierte. Unsere kleine Schiffstour auf dem Zürichsee werde ich nicht vergessen. Die letzte Reise mit meiner Mutter hat meinem Leben mit ihr eine eigene Dimension gegeben. Anfang Oktober ist sie gestorben.
Das Jahr 2010, in dem sie starb, war für mich einschneidend. Die Monate der Krankheit, die letzten Tage, der Tod, die Zeit danach. Es war mir sehr wichtig, dass ich sie in dieser Zeit gut begleiten konnte. Aber wie jeder, der einen nahestehenden Menschen verliert, fragt man sich: Was hätte man besser machen können? Hätte man mehr Zeit mit ihr verbringen sollen? Hätte man früher handeln können und sollen?
Rückblickend habe ich mir auch in dieser letzten Etappe ihres Lebens zu wenig Zeit für meine Mutter genommen. Ihre Krankheit breitete sich rasend schnell aus. Und ich habe zu spät wahrgenommen, wie schlecht es um sie bestellt war. Erst als sie nach einer einzigen Chemotherapie mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus kam, habe ich wirklich begriffen, dass es kein Zurück gab. Mein Bruder reiste von Berlin an – es waren drei Tage des Elends, in denen wir Kinder an ihrer Seite waren und bis zuletzt die Hoffnung nicht aufgaben. Den Tod habe ich dann als eine Erlösung empfunden, als ein Einschlafen, ein Hinübergehen in einen Raum, den ich mir als Christin als gottgegeben konstruiere. Sie ging zu Gott – und ist bei ihm aufgehoben. Das Leben geht weiter.
Froh und dankbar bin ich, dass ich in diesem Moment an ihrer Seite sein durfte. Es ist gewissermaßen eine Form von Koinzidenz, dass ich 14 Jahre zuvor meine Großmutter, die Mutter meiner
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