Landkarten des Lebens
dem Tal heraus zu finden und einen Berg, einen neuen Höhepunkt, zu erklimmen. Das macht mich sicher – so sicher, wie ich mich in dem Ballon gefühlt habe, auch wenn es da nur ein Seil gab, an dem ich mich festhalten konnte.
Heute habe ich manchmal die Gelegenheit, die Lebenslandkarten von anderen Menschen anzuschauen. Die Höhepunkte ähneln sich oft. Es sind meist Hochzeiten, Geburten der Kinder, der Bau eines eigenen Hauses, eine schöne Reise, vielleicht aber auch der Antritt des ersten Jobs oder Familienfeste. Ich bin mir sicher: Auch unsere Vorfahren hätten auf die Frage nach ihren Höhepunkten ganz ähnliche Ereignisse benannt.
Aber einer unserer Vorfahren hätte gewiss in seine Lebenslandkarte eine ganz andere Erfahrung als den Höhepunkt seines Lebens eingetragen: Mose. Am Berg Horeb begegnete er Gott und erhielt von ihm Berufung und Auftrag, die Kinder Israels aus Ägypten in das Land der Kanaaniter zu führen – dorthin, wo Milch und Honig fließen. Obwohl Mose zweifelte und zauderte und zunächst nicht daran glaubte, dass er sein Volk aus den Händen des Pharaos befreien könne, gelang ihm genau das – mit Gottes Hilfe und Unterstützung. Das war sicherlich ein Höhepunkt seines Lebens, der aber nicht lange danach in einem Tiefpunkt mündete: Nachdem Mose sein Volk befreit hatte, brachte er es auf den Weg nach Kanaan. Auf dieser Reise sprach er wieder mit Gott – auf dem Berg Sinai – und erhielt dort von ihm die Zehn Gebote für Gottes auserwähltes Volk. Mose kam nach 40 Tagen auf dem Berg mit diesen Zehn Geboten zurück und musste sehen, dass sein Volk währenddessen ein goldenes Kalb gegossen hatte und dieses anbetete – also bereits das erste Gebot Gottes übertrat. Vor lauter Wut zerstörte Mose die beiden Gebotstafeln. Dies war sicherlich ein schwarzer Tag in seinem Leben.
Die Täler meines eigenen Lebens und die vieler anderer Menschen haben durchweg etwas mit negativen Emotionen zu tun: Unfälle, Krankheiten – die eigenen und die anderer, geliebter Menschen –, Abschiede, Trennungen, ein verlorener Job. Es sind Krisen, die Einschränkungen bringen. Dass es diese Krisen gibt, dass sie kommen, können wir nicht beeinflussen. Wir können nichts dagegen tun. Genauso wenig wie Mose verhindern konnte, dass sein Volk in der Zeit seiner Abwesenheit ein goldenes Kalb goss und es anbetete. Was wir aber tun können: Wir können uns diese tiefen Täler, diese Krisen sehr genau anschauen und uns überlegen, was wir aus ihnen gelernt haben. Wir können aus den Krisen Kapital schlagen. Das gelingt uns jedoch nicht, wenn wir diese Lebenskrisen in den Keller unserer Seelen verbannen und sie uns nie mehr ansehen. Das gelingt uns nur, wenn wir uns diesen Tiefpunkten stellen und uns fragen: Was haben mir diese Krisen Gutes getan? Was habe ich durch sie Neues gelernt? Wie kann ich daran wachsen?
Auch Mose ist an der Krise seines Lebens gewachsen. Er gab nicht auf. Sein Gott gab ihn nicht auf. Mose hatte die innere Kraft und Stärke, wieder auf seinen Glauben und auf seinen Gott zu vertrauen – und auch auf sein Volk. Er fertigte zwei neue Tafeln aus Stein an, auf die Gott ihm noch einmal die Zehn Gebote schrieb. Er überbrachte diese Gebote seinem Volk, das sich reuevoll daran hielt und unter dem Schutz Moses und seines Gottes ins gelobte Land einzog.
Mehr als eine Lebenskrise
Das tiefste Tal meines Lebens war der Tod meiner ersten Frau Bettina. Sie starb an Krebs, als sie 37 Jahre alt war. Als sie krank wurde und wir erfuhren, dass keine Heilung mehr möglich ist, gab ich meine Hoffnung nicht auf, sondern war von einem tiefen Gottesvertrauen erfüllt. Gott würde ein Wunder tun, davon war ich überzeugt. Er würde mir nicht zumuten, ein zweites Mal einen geliebten Menschen zu verlieren. Schließlich war auch meine Mutter schon sehr früh an Krebs gestorben – als ich noch ein Kind gewesen war. Bettina und ich beteten und hofften, und viele andere Menschen beteten und bangten mit uns. Doch die so sehr herbeigesehnte Besserung trat nicht ein. Bettina ging es immer schlechter. Und irgendwann war klar: Sie würde sterben. Es würde kein Wunder geben. Gott würde nicht eingreifen.
Hinter dem Haus, in dem Bettina und ich damals lebten, war ein kleiner, sehr dunkler Wald mit eng stehenden Fichten. Dorthin ging ich einmal am Tag, denn in diesem dunklen und engen Wald fühlte ich mich wohl. Er verkörperte genau das, was sich in meinem Inneren abspielte: Es war finster in mir und ich sah keinen Ausweg
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