Landkarten des Lebens
etwas wie eine Berufung, der ich gerne und mit Begeisterung nachgehe.
Die Lebensmitte, eigentlich das ganze Leben, ist für jedermann und jede Frau mit einem hohen Maß an Verpflichtungen und Herausforderungen verbunden, wenn man sich ihnen stellen kann und will. Auch wenn wir uns noch so sehr anstrengen, ist nicht alles zu schaffen. Die Anforderungen werden, so scheint es manchmal, eher größer als kleiner. Vieles ist im Fluss.
Mitten im Trubel des Alltags, der durch meinen Beruf und meine Familie unweigerlich entsteht, versuche ich, den Überblick zu behalten und mich immer wieder neu zu orientieren. Wo stehe ich gerade? Wo will ich hin? Was ist mir wichtig und was nicht?
Obwohl ich viele Fragen für mich, die ich mich mittlerweile bereits in der Lebensmitte befinde, eigentlich beantwortet habe, fällt es mir oft nicht leicht, in bestimmten Situationen die richtigen Entscheidungen zu treffen – das eine oder andere Mal schlicht „Nein“ zu sagen. Zeit ist kostbar. Es braucht Gelassenheit und Ruhe, um die besonderen Momente des Lebens wahrnehmen und genießen zu können. Und mir ist bewusst, dass sich, wenn ich von einem Berg Ausschau halte, die Täler meinem Blick nicht entziehen – sie gehören dazu.
Rainer Wälde
Sackgassen: Ich akzeptiere meine Grenzen
Im vorletzten Kapitel schrieb ich über die Lebenswege, die ein Mensch geht und von Baumstämmen, die ihm manchmal den Weg versperren. Wenn ich nun von Sackgassen und Mauern spreche, dann klingt das zwar vom Thema her ganz ähnlich – ich meine damit aber etwas grundsätzlich anderes: Ein Baumstamm auf einem Weg kann einen dazu bewegen, einen ganz anderen Weg einzuschlagen, muss es aber nicht. Einen Baumstamm kann man auch wegräumen und danach seinen Weg fortsetzen. Mit Sackgassen und Mauern ist es ein bisschen anders. Sie versperren uns nicht von einer Sekunde auf die andere unseren Weg – so wie ein Baum, der über Nacht auf unseren Weg fallen kann –, sondern sie sind viel länger da und auch viel solider. Eine Sackgasse oder eine Mauer kann zum Beispiel ein Traumjob sein, den man unbedingt haben will, aber nicht bekommt. Oder Begabungen und Fähigkeiten, die man zwar sehr gerne hätte, aber nun mal nicht hat, und wenn man sich noch so sehr auf den Kopf stellt.
Einer meiner Neffen ist zum Beispiel jemand, der es sich schon als 14-Jähriger in den Kopf gesetzt hatte, zur GSG 9 zu gehen, der Antiterroreinheit der Bundespolizei. Er war vollkommen besessen von diesem Thema. Zu Weihnachten wünschte er sich Bücher über Sondereinsatzkommandos. Er redete nur noch über die harten Männer dieser Kampftruppe. Männer, die sich vor nichts fürchten. Echte Helden – in den Augen ein es Pubertierenden. Er sah sich dort, mitten unter ihnen, eine Heldentat nach der anderen vollbringend. Je älter er wurde, desto besser informierte sich mein Neffe. Irgendwann realisierte er, dass er sich sportlich betätigen muss, um überhaupt eine Chance zu haben, die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Er fing an zu joggen, legte den Weg nach Freiburg (immerhin 22 Kilometer) täglich laufend zurück – eine beachtliche Leistung, wie ich finde. Aber alles Trainieren half nichts. Er merkte, dass die Aufnahmeprüfung für eine Ausbildung bei der GSG 9 eine Nummer zu groß für ihn war, sowohl von den physischen als auch von den psychischen Anforderungen her.
Also, so beschloss mein Neffe, würde er sich eben für den Polizeidienst bewerben. Die sportlichen Tests bestand er ohne Probleme – schließlich war er in guter Form –, allerdings fiel er beim Rechtschreibtest durch. Er war einige Tage am Boden zerstört, verpflichtete sich dann aber bei der Bundeswehr als Berufssoldat. Er startete mit großem Elan in seinen neuen Lebensabschnitt. Auch wenn dies nicht hundertprozentig sein Traum war, kam seine neue Karriere diesem Traum doch ziemlich nahe. Allerdings nur für einige Monate. Dann holte ihn auch dort die Realität ein: Die viel gepriesene Kameradschaft unter den Soldaten entpuppte sich als ein endloses Saufgelage, und der Umgang der Soldaten untereinander war ganz und gar nicht das, was sich mein Neffe vorgestellt hatte. Der raue Ton und die Ellbogenmentalität passten nicht zu seinem persönlichen Wertesystem. Er verließ die Bundeswehr. Mittlerweile jobbt er in einem Krankenhaus und weiß auf die Frage, welchen Beruf er denn nun ergreifen will, keine Antwort.
Was meinem Neffen da widerfuhr, kenne ich aus eigener Erfahrung nur zu gut – dieses Gefühl, etwas so sehr
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