Landkarten des Lebens
Länder zu erfahren, sondern Reisen in den Dreck der Slums zum Beispiel von Nairobi und in staubige Dörfer im Landesinnern des Senegal, um Menschen in ihren verzweifelten Lebenssituationen zu erleben. Diese Reisen haben mich stark beeindruckt und den Blick auf bislang weiße Flecken meiner persönlichen Landkarte gelenkt.
Afrika ist der am schwersten von AIDS betroffene Kontinent. Auf den Reisen mit missio haben wir viele Häuser, Waisenheime, Kinderheime und Krankenstationen besucht. Dort engagieren sich zahlreiche Hilfsorganisationen, darunter viele katholische Ordensschwestern und -brüder für aidskranke Kinder und Aidswaisen. Mit Ordensbrüdern aus Lateinamerika besuchten wir Aidskranke im größten Slum von Nairobi. Ein Dutzend junger Patres wohnen mitten in Kibera in einfachsten Verhältnissen und kümmern sich um die Slumbewohner. Hunderttausende leben dort unter unvorstellbar erbärmlichen Bedingungen in größter Armut – ohne Kanalisation und ohne sanitäre Anlagen. Überall herrscht ein unsäglicher Gestank, nackte Kinder spielen im Dreck, es fehlt an allem.
Auf unserem Weg durch Kibera besuchten wir eine ungefähr zwölfköpfige Familie, die in einer unbeschreiblich schmutzigen Hütte lebt. In einer Ecke des armseligen Verschlages saß eine aidskranke Frau. Die Ordensbrüder hatten ihr eine Tüte Medikamente und eine Tüte Hirse mitgebracht, den Vorrat für eine Woche. Ohne diese Medikamente und die Lebensmittel hätte sie überhaupt keine Chance, zu überleben. Nachdem wir uns eine Weile miteinander unterhalten hatten, standen auf einmal alle auf, hielten sich an den Händen und bildeten einen großen Kreis. Gemeinsam beteten wir das Vater Unser, jeder in seiner Sprache. Kisuaheli und Englisch liefen im gleichen Duktus, es war ein bewegendes Erlebnis.
Christlicher Glaube wird in solchen Momenten greifbar und ganz konkret. Es bleibt nicht nur bei Worten. Die Menschen erfahren Gemeinschaft und praktische Hilfe in ihrer Not. Diese seelische Ansprache, die ich dort in jener ärmlichen Hütte im Slum von Nairobi erlebt habe, macht für mich die besondere Arbeit von missio aus. Jenseits der klassischen Entwicklungshilfe gehen die Ordensleute auf die Menschen zu, leben mit ihnen und bieten ihnen in christlicher Nächstenliebe Hilfe und Unterstützung an. Dabei missionieren sie nicht, sondern sind in bewundernswerter Selbstlosigkeit einfach für die Menschen da und helfen ihnen zu leben.
Die Arbeit von Schwester Christine ist auch so ein Beispiel. Ich lernte sie bei Kaolack im Landesinnern des Senegal kennen. Die 38-Jährige engagiert sich seit Jahren gegen die immer noch weit verbreitete Genitalverstümmlung, die vielerorts im Senegal aus Stammestradition praktiziert wird, obwohl sie seit 1999 per Gesetz verboten ist. Es ist eine tief verwurzelte Überzeugung der Menschen in vielen afrikanischen Ländern, dass Mädchen nur rein sind, wenn sie beschnitten sind. Unbeschnittene Mädchen finden keinen Mann und werden von ihren Familien verstoßen. Dabei ist der Vorgang der Beschneidung absolut bestialisch. Durch Erzählungen wissen heute zwar viele Mädchen, was auf sie zukommt, aber die Schmerzen und daraus resultierenden gesundheitlichen Probleme haben eine dann doch ungeahnte Dimension. Viele Mädchen sterben daran, alle erleiden unglaubliche Schmerzen. Außerdem haben diese Frauen zeit ihres Lebens Probleme beim Geschlechtsverkehr und beim Wasserlassen – abgesehen davon, dass sie durch die Beschneidung zum Objekt degradiert werden und ihnen die Würde genommen wird.
Es ist ein Mentalitätswandel notwendig, damit die afrikanische Gesellschaft erkennt, dass dieses schreckliche Unrecht beendet werden muss. Dazu braucht es öffentliche Wahrnehmung und eine Lobby für Frauen, die in ihrem kulturellen Umfeld Afrikas tatsächlich wenige Rechte haben. Noch ist es ein weiter Weg. Aber es gibt erste Anzeichen, dass sich etwas ändern kann. Schwester Christine hält unermüdlich Informationsveranstaltungen in den Dörfern ab, um die Menschen zu überzeugen, dieses grausame Ritual zu beenden. Ihre Initiative ist für mich ein kleines Hoffnungszeichen. Es wird sicherlich noch Jahre dauern, bis sich ein Sinneswandel vollzieht, aber es ist ein Prozess in Gang gekommen, und ich bin davon überzeugt, dass dieser Sinneswandel in den afrikanischen Stämmen auch ohne Aufgabe ihrer Werte möglich ist.
Unvergesslich wird mir eine dieser Informationsveranstaltungen bleiben, die wir mit missio begleitet haben. Es war ein
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